Ein Gebirgskurs mit schmalen Straßen und mehr als 7.000 Kurven vor den Toren Palermos auf Sizilien in Italien: Das ist die Targa Florio. Sie ist eins der insbesondere in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts sehr beliebten und strapaziösen Straßenrennen. Im Jahr 1924 ist eine Runde 108 Kilometer lang.

Vier davon sind für die Targa Florio zu fahren, eine weitere ist für die Coppa Florio angesetzt, insgesamt sind es somit 540 Kilometer – und Christian Werner auf einem Kompressor-Mercedes gewinnt am 27. April 1924 mit 6:32:37 Stunden die Targa Florio, mit 8:17:1,4 Stunden die Coppa Florio und fährt außerdem noch mit 1:35 Stunden die schnellste Runde. Auf den Plätzen 2 und 3 in der gleichen Rennklasse: ebenfalls Mercedes, mit den Fahrern Christian Lautenschlager und Alfred Neubauer. Damit ist der Dreifachsieg für die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) komplett – ein magischer Moment im Jubiläum "120 Jahre Motorsport", das Mercedes-Benz Classic 2014 feiert.

Mercedes ist die einzige Marke, die alle gestarteten Fahrzeuge ins Ziel bringt. Wer die Targa gewinnt, ist nicht zwingend auch Sieger der Coppa, denn die Chancen, auf der letzten Runde noch den Tribut an Straße und Gelände zu zahlen, sind immens. Von den 37 gestarteten Wagen erreichen nach vier Runden nur 21 das Ziel der Targa Florio. Nur noch 16 sehen eine Runde später das Zielband der Coppa Florio. Damit darf Christian Werner für seine Gesamtleistung durchaus Achtung gezollt werden – aber seinen Teamkollegen ebenfalls, denn alle meistern die Strapazen des damals vermutlich härtesten Straßenrennens in Europa.

Beim härtesten Straßenrennen der Welt zeigte Mercedes 1924 seine ganze Klasse, Foto: Mercedes
Beim härtesten Straßenrennen der Welt zeigte Mercedes 1924 seine ganze Klasse, Foto: Mercedes

Das Team meldet per Telegramm das Gesamtresultat nach Stuttgart: "Gesamtresultat Werner gewinnt Targa und Coppa Florio, ferner Coppa Caltavuturo für kürzeste Zeit vom Start bis dort, ferner die Coppa Villa Igiea für den Rundenrekord, ferner grosse goldene Medaille des ital. Königs und dito Sizil. Autoklub, ferner sämtliche Preise gestiftet von der Kaufmannschaft Palermos stop Klassenresultat Werner erster, Lautenschlager zweiter, Neubauer dritter, Mercedesteam gewinnt Coppa Termini für bestes Fabrikteam."

Die neuen Mercedes 2-Liter-Rennwagen sind bei der Targa rot lackiert statt in der üblichen deutschen Rennfarbe Weiß. Das ist Teil des Kalküls: Weil die meist italienischen Zuschauer die einheimischen, rot lackierten Fahrzeuge begeistert unterstützen, aber die andersfarbigen ausländischen Autos mitunter auf der Strecke behindern, tritt Mercedes einfach mit roten Autos an – und fährt den Dreifachsieg ein.

Die Mercedes-Rennwagen für Sizilien

Das richtige Material entscheidet über den Sieg. Das in Paris erscheinende Magazin "Auto" schreibt nach dem Rennen über die Stuttgarter Marke und ihre Targa-Fahrzeuge: "Die Mercedes-Wagen waren so gebaut, wie sie es für den sizilianischen Rennkurs sein mussten: kurzer Radstand, richtige Schwerpunktlage, besondere Rücksicht auf bequeme Sitzgelegenheiten für Fahrer (zum Beispiel Kissen aus grobkörnigem Leder, damit man nicht ins Rutschen gerät).

Die 2-Liter-Vierzylinder-Kompressor-Mercedes vor der Abfahrt zur Targa Florio 1924, Foto: Mercedes
Die 2-Liter-Vierzylinder-Kompressor-Mercedes vor der Abfahrt zur Targa Florio 1924, Foto: Mercedes

Ferner wiesen die Mercedes zwei kostbare Merkmale auf, die auch dem Nichtfachmanne kaum entgangen sein dürften: eine ganz wunderbare Fähigkeit, die Straße zu halten, und einen Steuermechanismus, der infolge geringer Belastung der Vorderradachse überaus weich und dabei höchst präzis wirkte."

Die Mercedes-Rennwagen sind Weiterentwicklungen jenes ersten Mercedes Kompressor-Rennwagens, der 1922 bei der Targa Florio eingesetzt wird, damals angetrieben von einem 1,5-Liter-Vierzylinder mit vertikal an der Motorstirnseite angeordnetem Kompressor. Dieser Motor hat bereits zwei durch eine Königswelle angetriebene oben liegende Nockenwellen und verfügt über Vierventiltechnik mit der erstmals in Zylindermitte angeordneten Zündkerze.

Aus diesem Motor entsteht der 2-Liter-Rennmotor für die ab 1922 gültige 2-Liter-Formel, bei dem als Neuigkeit erstmals das Querstromprinzip zur Geltung kommt: Ansaugung links, Auspuff rechts. Die Leistung der 1924 eingesetzten Rennmotoren bei der Targa beträgt 50 kW (67,5 PS) ohne Kompressor, aufgeladen sind es 93 kW (126 PS) bei 4.500/min. Kurzzeitig kann er bis 4.800/min gedreht werden. Die letzte Ausführung dieses Hochleistungsmotors erreicht gegen Ende 1924 sogar 110 kW (150 PS).

Fahrgestell und Karosserie der Targa-Florio-Rennwagen entsprechen weitgehend den Rennfahrzeugen, die 1923 bei den "500 Meilen von Indianapolis" eingesetzt worden sind, nur ist die Spur etwas verbreitert und der Rahmen am hinteren Ende zur Aufnahme der unentbehrlichen Reserveräder verändert. Die wichtigste Neuerung für die Fahrer ist eine kleine Windschutzscheibe vor dem Volant, die sie vor den reichlich herumfliegenden kleinen Steinen schützt, wenn ein Konkurrent überholt wird.

Ein historischer Mercedes in voller Schwarz-Weiß-Pracht, Foto: Mercedes
Ein historischer Mercedes in voller Schwarz-Weiß-Pracht, Foto: Mercedes

Nach der Targa Florio wird das Fahrzeug noch bei zahlreichen Rennen erfolgreich eingesetzt. Beim Klausenpass-Rennen im August 1924 fährt Otto Merz auf dem roten Renner die beste Zeit des Tages. Für das Semmering-Rennen im September lässt sich Otto Salzer in ein Targa-Florio-Fahrgestell einen 4,5-Liter-Motor des Grand-Prix-Wagens von 1914 einbauen, der zusätzlich noch mit einem Kompressor bestückt ist.

Salzer erzielt mit dem liebevoll "Großmutter" genannten Ungetüm zwar die schnellste Zeit für Rennwagen über 3 Liter Hubraum, den Gesamtsieg holt jedoch Targa-Florio-Sieger Wilhelm Werner auf "seinem" roten 2-Liter-Rennwagen. Zwei Jahre später, im September 1926, gelingt es niemand Geringerem als Rudolf Caracciola, mit der "Großmutter" das Semmering-Rennen in neuer Rekordzeit zu gewinnen.

Christian Werner und seine Rennfahrerkollegen

Christian Werner, Jahrgang 1892, beginnt im Dezember 1911 seine berufliche Laufbahn bei der Daimler-Motoren-Gesellschaft als "Monteur und Chauffeur", dient im Ersten Weltkrieg als Kraftfahrer und gehört ab Ende 1918 als "Fahrmeister" zur Einfahrabteilung der DMG.

Christian Werner gelang 1924 das Double mit Siegen bei der Targa Florio und der Coppa Florio, Foto: Mercedes
Christian Werner gelang 1924 das Double mit Siegen bei der Targa Florio und der Coppa Florio, Foto: Mercedes

Als erstes großes Rennen bestreitet er 1922 die Targa Florio, die er als Zweiter in der Klasse über 4,5 Liter Hubraum beendet. Im gleichen Jahr ist er Gesamtsieger der "Rumänischen Tourenfahrt", deren herausragende Ereignisse aus einer Schnelligkeitsfahrt, einer Messfahrt für geringsten Benzin- und Ölverbrauch und einem Bergrennen mit vier Personen an Bord bestehen. 1923 sieht man Werner in Indianapolis als Elften im Gesamtklassement, von den Fahrern deutscher Wagen ist er Zweiter und unter den europäischen Fabrikaten Dritter. Sein größter Triumph aber ist der Gewinn der Targa Florio und Coppa Florio 1924.

Seine Fahrerkollegen Christian Lautenschlager und Alfred Neubauer sind auch keine Unbekannten in der Rennszene der frühen Jahre. Lautenschlager ist der berühmte Sieger der Großen Preise von Frankreich in den Jahren 1908 (Dieppe) und 1914 (Lyon); das Rennen des Jahres 1914 geht ebenfalls mit einem grandiosen Mercedes-Dreifachsieg in die Geschichte ein. Neubauer ist damals als Rennfahrer ebenfalls erfolgreich – wird sich aber später vor allem als Rennleiter von Mercedes-Benz bis einschließlich 1955 in die Geschichtsbücher eintragen.