Es sind nur wenige Schritte, die man vom lauten und lebhaften MotoGP-Fahrerlager durch das Boxengebäude hochgeht, ehe man in den Räumen der Rennleitung steht. Und doch wähnt man sich plötzlich in einer anderen Welt. Hier herrscht konzentrierte Stille, gut ein Dutzend Personen hat Fernsehaufnahmen, Bilder von Überwachungskameras und die Zeitnahme fest im Griff. Das Ambiente gleicht dem Arbeitsumfeld von Fluglotsen im Kontrollturm.

Laut Paragraph 1.6.5.b des sportlichen Regelwerks der MotoGP, ist es die Hauptaufgabe der Rennleitung, einen sicheren, effizienten und zeitgerechten Ablauf des Events im Einklang mit dem Reglement der Weltmeisterschaft sicherzustellen. Was aber bedeutet das genau? Motorsport-Magazin.com erhielt eine Führung durch die Rennleitung, schaute den Verantwortlichen auf die Finger und bekam die wichtigsten Punkte ihrer Arbeit im Detail erklärt.

Abnahme von Rennstrecken

Schon lange bevor ein Rennwochenende über die Bühne gehen kann, werden die Strecken in Person des Sicherheitsbeauftragten abgenommen, der vom Motorradweltverband FIM entsandt wird. Dieses Amt bekleidet seit Jahren Franco Uncini, seines Zeichens 1982 Weltmeister in der Königsklasse bis 500ccm auf Suzuki. Der Italiener überprüft laufend Dinge wie die Airfences, die Position der Leitplanken oder die richtige Platzierung der Streckenposten. Vor allem bei Umbauarbeiten wie etwa Neuasphaltierungen hat Uncini auch ein Auge auf die korrekte Durchführung dieser Maßnahme.

Regenwetter sorgte in Silverstone für die Absage des MotoGP-Rennens, Foto: Schedl GP
Regenwetter sorgte in Silverstone für die Absage des MotoGP-Rennens, Foto: Schedl GP

Dass auch das freilich keine Garantie für einen reibungslosen Ablauf am Rennwochenende darstellt, musste die MotoGP Ende August bei der Absage aller drei Rennen in Silverstone feststellen. Uncini besuchte die Strecke vorab zwei Mal, das Debakel des Rennsonntags war für ihn damals aber noch nicht feststellbar.

Auch wenn neue Strecken auf eine Aufnahme in den MotoGP-Rennkalender drängen, ist Uncini der erste Spitzenfunktionär, der an die jeweiligen Austragungsorte reist und die Kurse dort abnimmt. Oft müssen etwa Auslaufzonen verändert oder Streckenbegrenzungen verschoben werden, ehe der höchste Homologationsgrad 'A' vergeben wird. Dieser ist nur für die Austragung der Motorrad-Weltmeisterschaft mit den Klassen MotoGP, Moto2 und Moto3 nötig. Für die Superbike-WM etwa reicht B und die Langstrecken-WM begnügt sich bereits mit C.

Leitung des Rennbetriebs

Hat das MotoGP-Rennwochenende erst einmal begonnen, überwacht die Rennleitung das Geschehen auf der Strecke. Um das möglich zu machen, sitzen Mike Webb (Rennleiter und Vertreter der Teamvereinigung IRTA), Graham Webber (stellvertretender Rennleiter), Franco Uncini (FIM-Vertreter und Sicherheitsbeauftragter) und Loris Capirossi (Vertreter von MotoGP-Promoter Dorna und Sicherheitsberater) zusammen mit diversen Assistenten vor einer Wand mit einer Vielzahl von Bildschirmen, die alle verfügbaren Informationen liefern.

Dazu zählen die Aufnahmen aus dem offiziellen TV-Signal, zahlreiche Überwachungskameras rund um die Strecke sowie eine Übersicht über die Position aller Fahrer und deren Zeiten. Kommt es zu Zwischenfällen, ist die Rennleitung gefragt. Ist ein Abbruch nötig, werden die Streckenposten - das können je nach Streckenlänge über 250 sein - informiert und sofort rote Flaggen geschwenkt. Außerdem werden die Fahrer mittels einer Nachricht auf dem Dashboard an ihrem Lenker über den Abbruch in Kenntnis gesetzt.

Handelt es sich um einen schweren Crash, werden zwei medizinische Experten zu Rate gezogen, die einen verpflichtenden Besuch im Medical Center der Strecke anordnen können, um etwa Gehirnerschütterungen ausschließen zu können. Werden derartige Verletzungen festgestellt, kann der Fahrer aus Sicherheitsgründen vom Rennbetrieb ausgeschlossen werden. Wurde ein Zwischenfall durch ein gefährliches Fehlverhalten eines Fahrers oder Teams ausgelöst, wird der Vorfall von der Rennleitung an das Stewards Panel weitergegeben, wo über eine etwaige Strafe beraten wird. Wenn möglich, halten sich Mike Webb und Co. aber vornehm im Hintergrund. "Wenn man vergisst, dass es die Rennleitung überhaupt gibt, ist das ideal, denn das bedeutet, dass alles auf der Strecke korrekt abläuft", glaubt Webb.

Verhängen von Strafen

Wurde von der Rennleitung ein möglicher Verstoß gegen das Reglement registriert, gibt sie diesen an das Stewards Panel weiter. Dieses besteht ebenfalls aus drei Personen. Rennleiter Mike Webb war bis 2018 das einzige permanente Mitglied, seinen Job übernimmt 2019 der ehemalige MotoGP-Fahrer Freddie Spencer. Damit soll Webb entlastet werden. Die zwei weiteren Stewards werden über ein Rotationsprinzip aus einem Pool des Weltverbandes FIM von über 20 Personen ausgewählt.

Entscheidungen im Stewards Panel werden über das Prinzip einer einfachen Mehrheit getroffen: Sind sich also zwei der drei Stewards einig, ist die Strafe beschlossen. Dieser Beschluss wird dann an die Rennleitung weitergegeben, wo man sich um die Umsetzung kümmert. Dabei kann es sich im Rennen etwa um eine befohlene Positionsänderung, eine Durchfahrtsstrafe oder eine Zeitstrafe von bis zu zwei Minuten handeln. Außerdem können Rückversetzungen in der Startaufstellung, Verwarnungen, Disqualifikationen, Geldstrafen bis 50.000 Euro und Sperren für ein oder mehrere Rennen ausgesprochen werden.

Innerhalb einer Stunde kann gegen diese Bestrafungen beim Court of Appeal, dessen Appeal Stewards weder in der Rennleitung noch im Stewards Panel sitzen, Berufung eingelegt werden. Dort können Strafen bestätigt, abgeändert oder annulliert werden. Auch das Stewards Panel selbst kann den Court of Appeal anrufen, wenn es der Meinung ist, dass ein Vergehen eine höhere Strafe nötig macht, als von ihm aufgrund des Reglements ausgesprochen werden kann. Dabei handelt es sich um Geldstrafen von mehr als 50.000 Euro oder einen Ausschluss aus der Weltmeisterschaft.

Kampf gegen Falschfahrer

In den letzten Jahren musste sich die Rennleitung mit einem neuen Problem herumschlagen: Track Limits. Seit die Strecken nicht mehr überall durch Gras oder Kies begrenzt sind, sondern oft lediglich durch eine farbliche Markierung von der Auslaufzone getrennt sind, haben Fahrer die Chance, sich durch Ausnutzen dieser asphaltierten Auslaufzonen einen unerlaubten Vorteil zu verschaffen. Das Reglement ist klar: Befinden sich beide Reifen neben der Strecke, hat ein Fahrer die 'Track Limits' überschritten. Kerbs zählen hierbei noch zur Strecke.

Die Zahl solcher Übertretungen ist von Kurs zu Kurs sehr unterschiedlich. Auf manchen Strecken wie dem Red Bull Ring in Spielberg sind die Track-Limit-Vergehen mittlerweile aber zu einer wahren Epidemie geworden. "Wir hatten dort im Laufe des Wochenendes über 900 Vorfälle, bei denen Fahrer sich einen Vorteil verschafft haben", erklärt der stellvertretende Rennleiter Graham Webber auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com. Ein Ausmaß, das von der Rennleitung nicht mehr bewältigt werden kann. Deshalb holte man sich für diese Aufgabe ein externes Unternehmen an Bord, das vor dem Event Kameras an den neuralgischen Punkten der Strecke installiert und während des gesamten Rennwochenendes nur diese Aufnahmen überwacht.

Wer in der MotoGP über den Kerb hinausfährt, wird bestraft, Foto: Repsol
Wer in der MotoGP über den Kerb hinausfährt, wird bestraft, Foto: Repsol

Jede illegale Übertretung wird an die Rennleitung weitergegeben. "Durch die Aufnahmen der Kameras sieht man ganz eindeutig, ob die Streckenbegrenzungen missachtet wurden oder nicht. So gibt es keine Diskussionen", stellt Webber zufrieden fest. In Trainings oder Qualifyings werden die entsprechenden Rundenzeiten gestrichen, im Rennen gibt es zunächst eine Verwarnung für die Fahrer, missachtet dieser die Streckenbegrenzungen weiterhin, kann eine Zeitstrafe ausgesprochen oder eine Positionsänderung angeordnet werden.

Verbindung mit Zeitnahme

Nicht direkt Teil der Rennleitung, aber in ständigem Kontakt mit Webb, Uncini und Capirossi befindet sich das Team der Zeitnahme. Mit Infrastruktur und Know-how des Schweizer Uhrenherstellers Tissot lässt sich die Position der Fahrer auf der Strecke stets feststellen. Insgesamt fünf offizielle Messpunkte gibt es an jeder Strecke: Drei Zwischenzeiten werden genommen und natürlich die Rundenzeit bei Start und Ziel. Hinzu kommt ein Messpunkt für die Höchstgeschwindigkeit.

Die Zeitnahme legt den Gewinner fest, Foto: MotoGP
Die Zeitnahme legt den Gewinner fest, Foto: MotoGP

Es sind aber nach jeder Kurve auf der Strecke Messpunkte verbaut, die beim Durchfahren mit einem Motorrad ein Signal an den Transponder übermitteln. Somit ist das Klassement stets aktuell und wird in dieser Form an die Rennleitung und auch den TV-Zuseher zuhause weitergegeben. Kommt es zu einem besonders engen Zieleinlauf, liegt es am Zeitnahmeteam, den Sieger zu bestimmen. Denn der Transponder wird an verschiedenen Motorrädern an unterschiedlichen Stellen verbaut, Gewinner ist aber der Fahrer, der als Erster mit dem vordersten Teil seiner Maschine die Ziellinie überquert. Eine Highspeed-Kamera mit 20.000 Bildern pro Sekunde sorgt hier für die Beseitigung etwaiger Unklarheiten.

Wer sitzt in der Rennleitung?

Mike Webb: In jungen Jahren war der Neuseeländer selbst Rennfahrer und wurde in seiner Heimat mehrmals Meister. 1989 bestritt er mit einer Wildcard sogar den 250ccm-Grand-Prix auf Phillip Island. 1992 begann er seine zweite Karriere als Crewchief im 500ccm-Team von WCM. 2002 wurde Webb Technischer Direktor der MotoGP und folgte zehn Jahre später Paul Butler als Renndirektor nach. Durch seine Erfahrungen als Rennfahrer und seine technische Expertise genießt Webb im MotoGP-Paddock höchstes Ansehen, nur in besonders kritischen Situationen verlässt er sich auf den Rat seiner fahrerisch erfahreneren Kollegen in der Rennleitung.

Franco Uncini: 1982 war Uncini Weltmeister in der 500ccm-Klasse auf Suzuki. Insgesamt holte er in der Motorrad-WM sieben Grand-Prix-Siege, 21 Podien und acht Pole Positions. 1983 wurde er nach einem Sturz in Assen von Wayne Gardner überfahren und lag lange Zeit im Koma, erholte sich aber schließlich wieder vollständig. 1985 beendete er seine aktive Karriere, seit 1993 berät er die FIM in Sicherheitsfragen. Sein Hauptaufgabengebiet ist sicherzustellen, dass alle Strecken im Kalender der Motorrad-Weltmeisterschaft den Anforderungen entsprechen. Kommt es an einem Rennwochenende etwa aufgrund starker Regenfälle, schlechter Sicht oder anderer Wetterkapriolen zu Abbrüchen oder Verschiebungen, ist es Uncini, der mit dem Safety Car als Erster auf die Strecke geht, die Bedingungen überprüft und wenn möglich die Strecke wieder freigibt.

Loris Capirossi: Gleich drei Weltmeistertitel hat Loris Capirossi in seinem Lebenslauf stehen. 1990 gewann er die 125ccm-Klasse als Rookie und verteidigte den Titel im Folgejahr erfolgreich. 1998 wurde er auch bei den 250ern Weltmeister. Neun Rennen gewann er in der Königsklasse. Insgesamt 328 Grands Prix bestritt er, ehe er seine Karriere 2011 beendete. Im Anschluss übernahm die Rolle als Sicherheitsberater von MotoGP-Promoter Dorna. Seine Erfahrungen auf den schnellsten Motorrädern des Planeten liegen noch nicht lange zurück, weshalb sein Input für die Rennleitung von großem Wert ist. Capirossi weiß genau, wie sich die Maschinen verhalten und in welchen Situationen potenzielle Gefahren auftreten können. Um sein Verständnis der aktuellen Generation an MotoGP-Bikes weiter zu verbessern, fuhr er im Vorjahr Maschinen aller sechs Hersteller an unterschiedlichen Rennwochenenden.

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