Es wird langsam zur kleinen Tradition: Pünktlich zum inoffiziellen Saisonstart der Formel 1 bei den Wintertestfahrten setzt sich Motorsport-Magazin.com mit Ex-Formel-1-Pilot, Le-Mans-Sieger, GPDA-Präsident, Williams-Berater, Geschäftsmann und Motorsport-Visionär Alex Wurz zusammen. Das zweiteilige Interview zur Lage der Königsklasse wurde im vergangenen Jahr so oft aufgerufen wie kein anderes Interview. Deshalb die Fortsetzung. Teil 1 zur Lage der Königsklasse im Jahr 2017 mit Alex Wurz:

Kurzer Flashback - 2016 hast du gesagt: Wir brauchen schnellere Autos, vor allem in den Kurven, denn das macht den Fahrern Freude, dann lachen sie wieder. Das ist die beste Promo für die Formel 1. Das haben wir jetzt - zufrieden?
Alex Wurz: Nein, nicht ganz. Der Schritt, dass wir schnellere Autos haben, ist absolut richtig. Obwohl einige Fans fragen: Warum brauchen wir schnellere Autos? Wenn das Formel-1-Auto nicht das absolut schnellste ist in der Motorsportkategorie ist, dann tust du dich schwer, es als den Gipfel, als das Top-Segment zu verkaufen. Wenn wir Rundenzeiten fahren, die zehn Jahre später noch nicht einmal dort sind wie vor zehn Jahren, dann tu ich mich auch schwer, zu sagen: Das ist der Peak of Technology. Natürlich muss man sagen, dass das Reglement es immer einbremst. Wir haben zum Bespiel kein Nachtanken mehr. Aber das ist schon zu viel. Wenn sich die Autos und die Strecken bei der Sicherheit verbessern, dann musst du immer nachziehen mit der Rundenzeit. Sie muss schneller werden, damit du fasziniert bist. Das ist für mich ein Grundelement. Wir sind einfach hingezogen zu schnellen Autos. Langsamer fahren finde ich keine Option.

Auf der Geraden schnell zu fahren, ist einmal interessant, aber nicht aufregend. Das Adrenalin kommt beim Ausloten des Grips, beim Bremsen und speziell in den Kurven. Jeder Fahrer kann es dir bestätigen - und ich kann es dir nur von unserer internen GPDA-Umfrage unter den Fahrern sagen -, dass der Spaß am Fahren in der Kurve liegt. Wenn in der Kurve nicht genügend Grip und auch eine Art des Grips ist, die dich einfach so richtig in den Sitz drückt, wo du etwas spürst, wo du bevor du in die Kurve fährst alles entscheiden musst und dann das Resultat hast, dass es dich reindrückt - wenn das nicht ist, dann ist es nicht so cool. Dann ist es nicht authentisch, wenn das nicht rüberkommt.

Die Formel 1 hatte nicht genügend Abtrieb, Foto: Sutton
Die Formel 1 hatte nicht genügend Abtrieb, Foto: Sutton

Und das ist in den letzten Jahren nicht rübergekommen zum Fan zu Hause und auch nicht zum Journalisten. Du transportierst ja die Nachricht. Wenn du nicht merkst, dass der Fahrer beim Aussteigen schwitzt, wenn du nicht das Gefühl hast 'Boah, das war jetzt die geilste Quali-Runde', wenn das nicht oft kommt, dann können wir das nicht als faszinierenden Motorsport verkaufen. Und das ist für mich ganz wichtig.

Es ist wirklich cool, dass die Fahrer zusammengehalten und in den letzten Jahren die Teams und Regelmacher bearbeitet und gesagt haben, die Autos müssen schneller sein. Sie haben es damals verstanden, als dass sie schwieriger zu fahren sein müssen. Da wurden Dinge wie keine Servolenkung oder manuelles Schalten diskutiert. Da sind wir intern - nicht in den Medien - etwas auf die Barrikaden gestiegen. Das hat nichts mit Schwierigkeit zu tun, das ist physisch schwierig. Man kann natürlich sagen, wir haben keine Servolenkung mehr und gehen zurück in die Steinzeit der Autotechnologie. Darum geht es nicht. In den Gesprächen haben wir gesagt, das es Fliehkräfte sein müssen. Dazu muss man schnell sein.

Wenn wir nicht annähernd an Rundenrekorden sind oder Rundenrekorde aufstellen, wie wollen wir das je als cool verkaufen? So sind wir jetzt zu dem Reglement gekommen. Aber ich bin nicht ganz happy, weil ich glaube, was jetzt noch fehlt ist, dass das Reglement weg von einer sehr sensiblen Aerodynamik geht. In Australien und bei den ersten paar Rennen kann ich jetzt garantieren - da verwette ich mein ganzes Gehalt - dass die Formel 1 schimpfen wird: Man kann nicht überholen, das Reglement ist scheiße.

Gut, dann lass uns wetten - ich habe beim Gehalt wohl weniger zu verlieren. Dann schreibe ich einfach genau das Gegenteil, versuche die Leute zu beeinflussen und dann habe ich dein Gehalt gewonnen...
Alex Wurz: Mach das bitte [lacht]. Ein WEC-Auto erzeugt um einiges mehr Abtrieb, als ein Formel-1-Auto. Die Formel-1-Autos haben in den 70ern mit den Schürzen auch mehr Abtrieb erzeugt, hatten nur schlechte Reifen, das ist aber ein anderes Thema. Die können hintereinander - quasi im Getriebe - um die Kurven fahren. Ich kann in Le Mans durch die Porsche-Kurven mit 280 km/h hinter meinem Konkurrenten herfahren, und habe fast keinen Washout, weil die Aerodynamik - beziehungsweise das Reglement - so gemacht ist und nicht so sensibel ist für Verwirbelungen.

Aber habe ich das nicht automatisch, weil ich bei einem Formel-1-Auto zwingend einen Frontflügel habe?
Alex Wurz: Ja, da sind wir jetzt beim Thema. Viele Leute sagen die Aerodynamik ist schuld, wir müssen die Aero wegnehmen. Dann fahren wir 20 Sekunden langsamer, und das ist uninteressant. Man kann Aerodynamik-Regeln machen, die nicht sensibel sind, die das knappe Hinterherfahren erlauben. Aber dann muss man das Reglement umstellen, das ist die Krux.

Wurz: Im LMP1 mit 280 km/h hintereinander durch die Porsche-Kurven, Foto: Sutton
Wurz: Im LMP1 mit 280 km/h hintereinander durch die Porsche-Kurven, Foto: Sutton

Natürlich möchte ein Top-Team wie Mercedes, Red Bull oder Ferrari nicht das Aero-Reglement ändern, denn sie haben das Knowhow, das ihnen den Verbleib an der Spitze absichert. Sie haben auch das Geld dazu. Aber wenn sie bei Null anfangen würden, würden sie den anderen Teams die Chance geben, aufzuholen. Deswegen will hier eigentlich keiner wirklich das Reglement verändern.

Das heißt, das müsste irgendjemand von außen aufzwingen. Aber man müsste sich rechtzeitig überlegen: Wie kann man ein Reglement machen, damit wir keine Front-Flow-Sensitivity haben. Bei uns geht alles über den Luftfluss am Frontflügel. Das ist extrem, wenn da nur ein bisschen Verwirbelungen da sind. Das müsste man ändern, dann können wir schnell und knapp hintereinander fahren.

Du bist fest davon überzeugt, dass man eine Formel 1 machen kann, die nicht so Aero-anfällig ist?
Alex Wurz: Ja.

Das heißt man müsste den Frontflügel komplett eistutzen?
Alex Wurz: Man muss weggehen von der Philosophie, die sich nur auf den Frontflügel konzentriert. Ich bin nicht der Aero-Experte, aber man muss den Abtrieb woanders generieren als am Frontflügel. Der Frontflügel entscheidet ganz genau, wo die kleinen Verwirbelungen hinkommen, damit der Diffusor richtig arbeitet. Wenn du das ein bisschen zerstörst, funktioniert es nicht. Wenn man den Abtrieb unter dem Auto generiert - wo jetzt eine 1,60 Meter breite Flow-Fläche ist -, dann kannst du damit beim Hinterherfahren super Downforce generieren.

Jetzt muss ich dich an deinen eigenen Worten geiseln: Letztes Jahr hast du gefragt, woher wir wissen wollen, dass die Leute überhaupt Überholmanöver wollen. Du hast gesagt:

"Was wir seit 2000 intern sagen, es muss mehr überholt werden, war vielleicht ein dramatischer Trugschluss im Jahr 2000. Die meisten Leute haben gesagt, dass das, was um 2000 rum war - Reifenkrieg, Nachtanken, die Autos - das war für sie die geilste Formel 1. Da ist wahnsinnig wenig überholt worden."

Brauchen wir Überholmanöver?
Alex Wurz: Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, mit dem wissenschaftlichen Ansatz der GPDA-Umfrage einen Anstoß zu bekommen, damit wir das Produkt mehr wissenschaftlich untersuchen, bevor wir Änderungen vornehmen. Liberty Media will das auch in diese Richtung machen, wie ich das verstanden habe. Was ganz klar bei Umfragen herauskommt ist: Konkurrenzfähigkeit. Das heißt, das Feld muss knapp zusammen sein und nicht künstlich beeinflusst werden, das ist eine ganz klare Nachricht der Fans gewesen. Sie wollen keine künstlichen Gimmicks.

DRS...
Alex Wurz: DRS haben sie jetzt schon ein bisschen akzeptiert und verdaut, aber reversed Grid oder Joker-Runden, das alles wollen sie garantiert nicht. Das ist die Nachricht, die aus dieser Umfrage zu 1000 Prozent herauskommt. Jetzt stell dir vor, wir haben coole Rundenzeiten, könnten knapp hintereinander fahren und dann gibt es eine Budgetgrenze, damit alle dieselben Ressourcen haben. Dann werden alle Teams viel enger beisammen sein. Auf einmal bist du schon dort. Mehr braucht der Sport eigentlich nicht, der Rest ist dann nur noch, wie man das Produkt promotet. Promotion, Promotion, Promotion!

Jetzt muss ich aber noch einmal kurz auf das Überholen zurückkommen: Natürlich ist ein cooles Überholen ganz wichtig. Das ist wie ein geiles Tor, das kann man mit dem Fußball vergleichen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass der Fan nicht will, dass die Formel 1 ein Basketballspiel wird, wo immer Körbe fallen, aber manche einfach nicht spektakulär sind. Du musst emotionale Highlights produzieren und die musst du in gewissen Abständen haben. Ein Dreikampf, weil sie knapp hintereinander fahren können, ist ohne Überholmanöver vielleicht genauso spannend, wie irgendwann ein Überholmanöver zu sehen.

Aber musst du dafür überhaupt so nah hinterherfahren? Du fährst einfach einem so nah du kannst hinterher, übst so viel Druck auf den Vordermann aus, dass er jederzeit einen Fehler machen könnte.
Alex Wurz: Das ist geil.

Dann brauchst du doch gar nicht viele Überholmanöver...
Alex Wurz: Genau, man muss nur die Spannung haben, dass du zu Hause sitzt und dich fragst: Schafft er es jetzt oder schafft er es nicht? Das ist wie wenn die Fußballmannschaft in den Strafraum reinkommt, ob das Tor fällt oder nicht. Wir hatten die Spannung, deshalb schaue ich einfach zu.

Und das glaubst du, dass mit diesen Autos nicht möglich ist?
Alex Wurz: Ich glaube, das wird ein Problem werden.

Glaubst du, der Zuschauer sieht, ob er 0,4 oder 0,7 Sekunden hintendran ist?
Alex Wurz: Zehn Prozent der Zuschauer werden es vielleicht sehen. Aber unsere eigene Art und Weise, wie wir intern kommunizieren und der Fahrer sagt: Ich konnte nicht überholen, kann nicht folgen, das ist schlecht. Dann wird es transportiert und auf einmal ist es die globale Meinung.

Also eine Negativspirale wie die letzten Jahre...
Alex Wurz: Das kann man nicht als negativ bezeichnen, weil es einfach nur die normale Berichterstattung ist. Deswegen müssen sich die Fahrer auch immer bewusst sein, was sie sagen. Das ist eigentlich Meinungsbildung und das Produkt wird dann so abgestempelt. Aber wenn er nicht überholen kann, muss er es sagen. Da bin ich wieder beim Thema Authentizität. Du kannst kein Produkt als schön bezeichnen, wenn es nicht schön ist.

Hat euer Brief im Hinblick auf das neue Reglement wirklich etwas gebracht?
Alex Wurz: Viele Dinge, die wir angesprochen haben, haben für das Reglement den Unterschied gemacht. Der Brief hat andere Dinge bewirkt, darüber möchte ich jetzt aber nicht sprechen.

Ging es euch eher um strukturelle Änderungen?
Alex Wurz: Nein, aber vielleicht um ein Wachrütteln. Die Entscheider, die sich in dieser Zeit dann immer mehr nach innen gedreht haben, um intern ihr Spiel zu spielen, haben dann gemerkt: Es schauen ja doch noch Millionen von Menschen zu. Da ist ein Sport, den wir auch berücksichtigen müssen und nicht nur die Politik und die eigenen Machtkämpfe. Sie haben dadurch ein bisschen ein Wachrütteln erlebt. Es war auch die Intention des Briefes von allen Fahrern zu sagen: Wenn wir jetzt immer die verrücktesten Regeländerungen haben, die eigentlich das Grundproblem nicht adressieren oder in den Mittelpunkt setzen, dann helft ihr nicht, sondern schadet dem Sport. Das hat mit Sicherheit geholfen.

Den zweiten Teil des großen Interviews gibt es am 15.03.2017 auf Motorsport-Magazin.com.