Der Termin für das FIA-Tribunal in Sachen Pirelli-Mercedes-Test steht fest: Am 20. Juni wird in Paris beraten, wie es mit der strittigen Causa und den Beteiligten, Beschuldigten und einer möglichen Strafe weitergeht. Ausgerechnet Paris, mag da manch einer überspitzt denken - schon zu Zeiten der Französischen Revolution trieb die Guillotine in Frankreichs Hauptstadt ihr Unwesen und auch heuer könnten, im übertragenen Sinne wie sich versteht, Köpfe rollen. Das sogenannte Tribunal hat seinen Namen nicht umsonst: Viele Experten erwarten sich im Anschluss an die Anhörung und im Zuge der lückenlosen Aufklärung des Pirelli-Tests von Mercedes in Barcelona personelle Konsequenzen - und zwar in allen Lagern. Das Unübliche dabei: Diesmal könnte die Luft nicht nur bei den Beklagten Prielli und Mercedes eng werden - auch bei der untersuchenden Sportbehörde FIA soll die delikate Angelegenheit angeblich ein Nachspiel haben.

Zwei Beteiligte & ein möglicher Profiteur: Whiting, Brawn & Blash, Foto: Sutton
Zwei Beteiligte & ein möglicher Profiteur: Whiting, Brawn & Blash, Foto: Sutton

Während bei Mercedes Ross Brawn die Verantwortung für den Test eingeräumt und sich damit für viele ganz oben auf der Abschussliste positioniert hat - zudem passend, da mit Paddy Lowe ein designierter Nachfolger schon bereit steht - droht Pirelli bei weitreichenden Sanktionen sogar mit dem kompletten Rückzug aus der Königsklasse. Doch wer glaubt, beim Weltverband würde all das einfach so über die Bühne gehen, der irrt. Charlie Whiting, der im Prinzip eher dem Ecclestone-Lager als Jean Todts FIA-Delegation zugeordnet werden kann, soll sich Gerüchten zufolge immer mehr als Bauernopfer herauskristallisieren. Dabei könnte dem Renndirektor zum Verhängnis werden, dass er es war, der Mercedes laut den bisher veröffentlichten Informationen grünes Licht für die Pirelli-Aktion gegeben hat.

Wo endet die Entscheidungsgewalt?

Stolpert Whiting nun über sein eigenmächtiges Handeln, das in allen Jahren zuvor aber genau von ihm gefragt und seine große Stärke war? Als Behörde muss die FIA bei jeglicher Entscheidungsfindung zu viele Instanzen durchlaufen - eine ausführende rechte Hand, namentlich Whiting, war schon immer das, was das Tagesgeschäft überhaupt operativ hat laufen lassen. Gerade in der F1 sind oftmals schnelle Entscheidungen gefragt - im Motorsport ist das zumeist nur umsetzbar, wenn es eine klare Hierarchie und damit auch eine Einzelperson als Entscheider gibt. Das ist, zumindest wenn es um Fragen an der Strecke geht, bei den Teams zumeist nicht anders als bei der Behörde. Der von Letzterer ausgestellte Blankoscheck für Whiting könnte nun aber zum Bumerang für den Briten werden und ihn bei seiner Rückkehr gnadenlos abrasieren.

Jean Todt muss sich entscheiden und könnte einen alten Bekannten ins Boot holen, Foto: Sutton
Jean Todt muss sich entscheiden und könnte einen alten Bekannten ins Boot holen, Foto: Sutton

In seiner seit 1997 andauernden Amtszeit musste Whitining wahrscheinlich einhundert solcher Entscheidungen treffen - dass irgendeine davon eines Tages kollektiv als falsch angesehen wird und dann an ihm persönlich hängenbleibt, liegt in der Natur der Sache und ist letztlich seiner exponierten Stellung geschuldet. Der Imageschaden durch den Ablauf der Testfahrten und die Art und Weise, wie dieser nach und nach zu Tage getreten ist, ist für die FIA ohnehin schon groß genug - auf die Schultern eines einzelnen Mannes abgelegt erscheint die Mitschuld der augenscheinlich tatenlos zusehenden FIA für die Behörde jedoch schon besser verträglich, zumal der dafür verantwortlich gemachte Mitarbeiter von seinem Posten anschließend ja sowieso entfernt wird.

Alte Freunde...

Sollte das besagte Szenario eintreten und Whiting tatsächlich abgesägt werden, zeigt sich einmal mehr: Die Formel 1 ist zur gnadenlosen Politik verkommen - bei Fehlern rollen auf öffentlichen Druck hin zwingend Köpfe, um schnell zur Tagesordnung übergehen zu können. Das hinter allem steckende Grundproblem der massiven Uneinigkeit zwischen Teams, FIA, Pirelli und den Vermarktern wird dadurch aber keineswegs aus der Welt geschaffen und schwelt im Hintergrund munter weiter. Darüber wird früher oder später auch ein Nachfolger stolpern, der Gerüchten zur Folge bereits feststehen soll - dabei handelt es sich um einen alten Bekannten: Giorgio Ascanelli.

Kehrt Ascanelli bald auf die F1-Bühne zurück?, Foto: Sutton
Kehrt Ascanelli bald auf die F1-Bühne zurück?, Foto: Sutton

Der ehemalige Technikdirektor von Toro Rosso schied nach Differenzen über die Entwicklungsrichtung beim Team aus Faenza vor genau einem Jahr aus und bekleidet in der Königsklasse seitdem keinen Posten - mit seiner Erfahrung im Business und seinem technischen Know-how käme er dem gestellten Anforderungsprofil für den Posten wohl noch am nächsten. Zudem verfügt er über beste Kontakte zu FIA-Präsident Jean Todt - bei Ferrari arbeiteten die beiden in der Ära Schumacher über zehn Jahre lang eng zusammen. Als weiterer Kandidat für eine mögliche Whiting-Nachfolge gilt auch Herbie Blash - der 64-jährige Brite ist seit 1995 als stellvertretender Renndirektor tätig und in der Rangordnung der erste Mann hinter Whiting. Er wäre für den Fall der Fälle somit eine Art interne Lösung.