Eines wird Nissan niemand nehmen können: Die Bewunderung für das Ungeheuerliche Wagnis, ein physikalisch eigentlich hoffnungsloses Prinzip so konsequent durchzuziehen und zu versuchen, dieses zum Erfolg zu führen. Der Nissan GT-R LM Nismo hat bereits vor seinem ersten Rennen einen Platz in den Geschichtsbüchern neben den innovativsten Fahrzeugen der Motorsport-Geschichte sicher. Die Frage ist: Wird er sich auf der ruhmreichen Seite neben Rennwagen wie dem Lotus 79 einsortieren, oder auf der weitaus längeren Liste von Wagnissen, die auf dem Schrottplatz der Geschichte landeten?

Alleine schon die Idee, einen 750 PS starken Fronttriebler zu bauen, dürfte bei den meisten Ingenieuren Schnappatmung auslösen. Die Ankündigung, damit spätestens 2016 Le Mans gewinnen zu wollen, wird wohl bei den meisten Menschen die Frage aufsteigen lassen, welche Drogen da im Spiel gewesen sein müssen. Dass das ganze Projekt auch noch über drei Kontinente verteilt wurde, machte die Sache nur noch schwieriger. Doch Nissan ließ sich von den vielen Kritikern nicht aus der Bahn bringen und hat - allen Schwierigkeiten mit dem Fahrzeug zum Trotz - es geschafft, zumindest drei einsatzfähige Fahrzeuge nach Le Mans zu bringen, die weiter kommen dürften als der ZEOD RC im Vorjahr.

"Ehrlich gesagt habe ich erst gedacht, dass das Team verrückt wäre, bis ich die Simulationen gesehen habe, die mir Ben [Bowlby; Designer] und Ricardo [Divila; Performance-Ingenieur] erklärt haben", sagt Michael Krumm, der als einziger der neun Fahrer bereits beim letzten Anlauf von Nissan im Jahre 1999 dabei gewesen ist. Selbst als GT-Weltmeister mit über 25 Jahren Motorsporterfahrung ist der Japaner mit den deutschen Wurzeln hin und weg von dem Konzept - es muss also etwas dran sein. Die Fachwelt ist unterdessen skeptisch: Bei den Testfahrten fuhr Nissan weit hinterher. Bowlby wiegelte ab: Man sei nicht auf Schlagzeilen aus gewesen.

Der Mastermind hinter dem verrückten Unterfangen: Nismo-Marketingchef Darren Cox, Foto: Nismo
Der Mastermind hinter dem verrückten Unterfangen: Nismo-Marketingchef Darren Cox, Foto: Nismo

Ziel: Einzigartigkeit beweisen

Die Fahrer zeigten sich durchaus angetan vom Fahrverhalten des ungewöhnlichen Autos: "Das Drehmoment ist herausragend - wesentlich mehr als jedes andere Rennauto, das ich je gefahren bin", lobt Ex-F1-Fahrer Max Chilton. Krumm fügt hinzu: "Das Beeindruckendste ist für mich die Traktion bei der Geradeausfahrt gewesen und auch die Aerodynamik: Das Auto hat extrem wenig Luftwiderstand und rennt und rennt und rennt." Bei den Topspeedwerten hatte Nissan, obwohl man mit weit weniger Leistung fährt als ursprünglich angedacht - die Nase beim Test schon vorn gehabt.

Nissan verfolgt ein im Motorsport nie da gewesenes Marketing-Konzept und versucht, auch Menschen für Le Mans zu begeistern, die sonst gar nichts mit dem Motorsport zu tun haben. Egal, wie das Ergebnis ausfallen wird: Gewinner werden alle sein, allen voran die World Endurance Championship, die dank Nissan einem völlig neuen Publikum präsentiert wird. Nissan will nur eines: Beweisen, dass man Dinge "anders" machen kann.

Mit drei Rookies zum großen Unterfangen

Die Fahrer: Nissan Nismo hat seinen Fahrerkader vielfältig zusammengestellt: Neben dem früheren Formel-1-Piloten Max Chilton teilen sich Piloten aus der Super GT, der Blancpain Endurance Series und der hauseigenen GT Academy die drei Cockpits der ungewöhnlichen Fahrzeuge. Drei Fahrer sind völlige Neulinge in Le Mans: Max Chilton, Tsugio Matsuda und Alex Buncombe. Die meisten europäischen Motorsport-Fans werden außer Chilton und vielleicht Krumm kaum einen der Fahrer kennen.

Im Retro-Look: Nissan erinnert mit der Startnummer 21 an die Pole von 1990, Foto: Nismo
Im Retro-Look: Nissan erinnert mit der Startnummer 21 an die Pole von 1990, Foto: Nismo

Mit Tsugio Matsuda steigt kein geringerer als der amtierende Champion der japanischen Super GT ins Cockpit - einer hochkompetitiven Meisterschaft mit DTM-ähnlichen Boliden, die Prototypen sehr ähneln. Außerdem kann er zwei Titel aus der Formel Nippon/Super Formula vorweisen. Er teilt sich das Lenkrad in der Startnummer 21 mit den beiden GT-Academy-Gewinnern Lucas Ordonez und Mark Shulzhitskiy, die beide vor ihrem größten Rennen stehen. Sie werden dieses Jahr nur in Le Mans antreten. Ordonez ist mit vier Starts der erfahrenste Le-Mans-Pilot auf diesem Fahrzeug; Shulzhitskiy kann einen LMP2-Auftritt vorweisen.

In der Startnummer 22 wird Michael Krumm den erfahrenen Piloten stellen. Bei seinen sechs Le-Mans-Teilnahmen kam er bislang einmal mit Audi im Jahre 2002 als Dritter aufs Podium. "Jetzt zurückzukehren und unsere unerledigten Angelegenheiten nachzuholen, bedeutet mir viel", so der 45-Jährige. Sein Teamkollege Harry Tincknell hat sich bereits einen Namen in der LMP-Szene gemacht, ist in Le Mans aber erst einmal mit gefahren, hat dabei aber gleich den LMP2-Klassensieg geholt. Alex Buncombe wird als Rookie auch von ihm lernen können.

Im dritten Nissan GT-R LM Nismo wird sich Max Chilton trotz seiner Formel-1-Erfahrung an Olivier Pla orientieren. Der Franzose kommt auf nicht weniger als sieben Le-Mans-Teilnahmen, eine davon (2011) in der LMP1-Klasse. Dennoch ist es sein erster Einsatz als Werksfahrer. Für GT-Academy-Sieger Jann Mardenborough ist es Le-Mans-Einsatz Nummer drei nach zwei LMP2-Auftritten in den vergangenen beiden Jahren. Insgesamt kommen die neun Fahrer auf 22 Le-Mans-Teilnahmen, im Schnitt sind es 2,4 - also eine vergleichsweise unerfahrene Mischung.

Michael Krumm ist als einziger Fahrer schon bei Nissan letztem Anlauf dabei gewesen, Foto: Nismo
Michael Krumm ist als einziger Fahrer schon bei Nissan letztem Anlauf dabei gewesen, Foto: Nismo

Das Auto: Nissan hat gehalten, was man versprochen hat. Das Fahrzeugkonzept ist eines der größten Wagnisse der Motorsportgeschichte. Doch schon vor dem ersten Rennen hat das Fahrzeug einen kompletten Sinneswandel hinter sich: Ursprünglich sollte der Primärantrieb auf der Vorderachse durch ein Monster-Hybridsystem auf der Hinterachse unterstützt werden, das die Vorderachse beim Beschleunigen entlasten sollte. Aus 8 Megajoule, zwei Hybrid-Systemen und 1.500 PS wurde aber nichts, denn die ganze Konstruktion wurde schlicht und einfach viel zu schwer. Mit dem Doppelhybrid ist der GT-R LM Nismo noch nie gefahren; überhaupt ist es wahrscheinlich, dass Nissan nur auf dem Papier in der 2MJ-Klasse fährt und gänzlich auf Hybrid verzichtet.

Es folgte ein Kahlschlag: So musste Nissan ein komplettes kinetisches Energierückgewinnungssystem ausbauen und ging daher nicht nur mit deutlich verminderter Leistung, sondern auch mit einem Problem in die Testfahrten: Nun gab es keinen Entlastungsschub mehr für die Vorderreifen. Mit einem Kraftakt gelang es Nissan in Kooperation mit Michelin, einen Vorderreifen zu entwickeln, der die enorme Belastung von über 750 PS (falls der Hybrid zum Einsatz kommt) plus die Lenkkräfte auf die Straße übertragen kann. Das verrückte Konzept wurde so nur noch verwegener - einen derart monströsen Fronttriebler hat noch nie jemand mit seriösen Ambitionen gebaut.

Tatsächlich scheint sich die Arbeit jedoch ausgezahlt zu haben. Der Nissan GT-R LM Nismo hat bei einem Test in den USA einen erstaunlich schonenden Umgang sowohl mit Trocken- als auch Regenreifen bewiesen. Zumindest in Le Mans sollte es am schwarzen Gold nicht scheitern. Der GT-R verfolgt ein einzigartiges Konzept: Gewaltige 360 Millimeter breite Vorderschlappen, während die Hinterreifen nur 230 Millimeter breit sind. Wie gut der Nissan die Hauruck-Aktion überstanden hat, wird sich im Rennen zeigen.

Technische Daten Nissan GT-R LM Nismo

Wird der Nissan GT-R LM Nismo ein Geniestreich oder ein Reinfall?, Foto: Nismo
Wird der Nissan GT-R LM Nismo ein Geniestreich oder ein Reinfall?, Foto: Nismo

Einsatzteam: Nissan Motorsports
Länge: 4.645mm
Breite: 1900mm
Höhe: 1030mm
Motor: 3.0l V6 Biturbo, Benzin-Direkteinspritzung
Getriebe: 5-Gang sequenziell
Energierückgewinnung: 1x ERS-K
Energiespeicher: Flywheel
Systemleistung: 761 PS
Hybridklasse: 2MJ

Erfolgsbilanz in Le Mans: Es ist der erste Werkseinsatz von Nissan in Le Mans im 21. Jahrhundert. Bislang hat der Circuit de la Sarthe dem japanischen Hersteller nur einen einzigen Podiumsplatz gegönnt, als Aguri Suzuki, Kazuyoshi Hoshino und Masahiko Kageyama im R390 anno 1998 einen dritten Platz erzielten. Die anderen Anläufe 1997 und 1999 waren weniger erfolgreich, auch bei den ersten Versuchen in der Gruppe-C-Ära kam man nicht über einen fünften Platz hinaus. Vor dem LMP1-Projekt versuchte sich Nissan 2012 und 2014 mit Garage-56-Projekten. Während der DeltaWing eine ordentliche Performance zeigte und unglücklich durch eine Kollision mit einem Toyota ausschied, endete das Unterfangen ZEOD RC in einem sportlichen Desaster: Aus nach 20 Minuten.

Redaktionskommentar

Motorsport-Magazin.com meint: "Vermutlich wäre es bereits ein Erfolg, wenn einer der drei Nissan GT-R LM Nismo die Zielflagge sehen würde. Nach der teils chaotischen Vorbereitung ist nicht damit zu rechnen, dass Nissan mit dem radikalen Konzept die erfahrenen Hersteller herausfordern kann, der Sieg steht ja auch "erst" für 2016 im Zeitplan. Die Konkurrenten dürften eher Rebellion Racing und ByKolles heißen - eine schnellere Pace als die LMP2 hat Nissan versprochen. Die wichtigste Aufgabe: Daten sammeln, denn 2016 soll dann der Monster-Hybrid kommen. Von der eigenwilligen Marketing-Strategie profitiert unterdessen die gesamte Langstrecken-Szene. (Heiko Stritzke)