Sie trumpfen meistens erst in der dritten Hälfte eines Rennens auf. Und sind gerade deshalb wichtig für die MotoGP. Kalauer-Alarm bei jedem Interview und Sprüche frei von der Leber weg: Willkommen in der Welt von Cal Crutchlow und Jack Miller.

Wäre die Startaufstellung der MotoGP wie eine Schulklasse organisiert, dann würden Cal Crutchlow und Jack Miller mit Sicherheit in der letzten Reihe stehen. Und vor lauter Quasseln würden sie wahrscheinlich sogar das Erlöschen der Startampel versäumen. Die Lümmel aus der hintersten Schulbank eben! "Der frechste Mann der MotoGP? Das ist eindeutig Cal", ist sich Jack Miller im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com sicher. "Ich würde sagen, dass ich der ehrlichste bin. Aber der frechste? Das ist wahrscheinlich Jack", entgegnet Cal Crutchlow nur wenig später. Eines ist sicher: Sprüche klopfen können die beiden MotoGP-Asse mindestens genauso gut wie Motorrad fahren. Nie um einen flotten Kalauer verlegen, tragen sie ihr Herz auf der Zunge.

Ob sie deswegen so gut miteinander auskommen? Immerhin verbrachte das Großmaul-Pärchen Anfang Juni mehrere Tage gemeinsam bei der Tourist Trophy auf der Isle of Man. Gemeinsamer Urlaub zweier MotoGP-Rivalen? Das kennt man sonst nur von den Espargaros, die trotz Engagements in unterschiedlichen Teams aber mehr Brüder als Rivalen sind. Crutchlow, der selbst auf der Isle of Man lebt und bei der TT seit Jahren Stammgast ist, sah Miller dort zum ersten Mal sprachlos: "Ehrlich gesagt, wirkte er fast ein wenig geschockt. Zu Beginn standen wir in einer Kurve auf der Innenseite - da ging es ja noch. Aber dann zeigte ich ihm eine Passage am Ende einer Geraden, wo die Jungs mit über 250 km/h an dir vorbeibrettern und die Motorräder dabei leicht abheben. Da wurde Jack schon ein wenig mulmig und er trat sogar ein paar Schritte von der Streckenbegrenzung zurück." Miller gibt offen zu, von diesen Erlebnissen schwer beeindruckt zu sein: "Die sind vollkommen verrückt. Wenn du an der Strecke stehst, sieht das einfach nur unwirklich aus. Das sind die wahren Helden auf Motorrädern. Als Zuschauer ist es sehr cool, aber selbst würde ich dort nie fahren. Dazu stürze ich ja schon in der MotoGP zu oft."

Stürze sind 2016 ein ständiger Begleiter vieler MotoGP-Fahrer. Gerade Crutchlow und Miller - für ihre draufgängerische Art bekannt - bekommen die volle Härte der Einheitselektronik und der neuen Michelin-Reifen zu spüren. Dass beide Fahrer sich zudem mit der 2016 etwas schwierig zu handhabenden Honda abärgern müssen, macht die Sache nicht einfacher. Vier Ausfälle stehen bei Crutchlow bereits zu Buche, drei und ein Rennen Verletzungspause bei Miller. In gewohnter Manier halten sie deshalb nicht mit Kritik am Material hinter dem Berg. "Wenn ein Reifen scheiße ist, dann kann ich das auch ganz offen sagen. Es sieht ohnehin jeder, der die Rennen im Fernsehen verfolgt, dass es so ist. Da braucht man noch nicht einmal sonderlich viel Ahnung von der Materie haben", nimmt Miller Michelin in die Pflicht. Aber auch Magneti Marelli bekommt sein Fett weg: "Die Elektronik ist immer noch beschissen. Klar, es ist besser als der Mist, den ich im Vorjahr einsetzen musste, aber dennoch ist sie nicht gut."

Und dann wären da auch noch die Probleme bei Honda, deren Bike in der laufenden Saison alles andere als ein Vorzeigeobjekt ist. Crutchlow erklärt: "Das Handling des Motorrads muss sich verbessern und in einigen Bereichen wünschen wir uns mehr Grip. Hondas Ingenieure arbeiten zwar mit Hochdruck daran, aber ich bin skeptisch, wie viel man noch verbessern kann, wenn eine Saison erst einmal im Gang ist." Zuletzt wurden die Ergebnisse von beiden Fahrern aber deutlich besser. In Barcelona holte das Großmaul-Pärchen mit Rang 6 (Crutchlow) bzw. Rang 10 (Miller) sein bis dahin bestes Saisonergebnis. In den Chaos-Rennen von Assen und dem Sachsenring schafften es beide sogar auf das Podium. Miller holte in den Niederlanden gar seinen ersten Sieg, Crutchlow mit Platz zwei beim Deutschland GP sein bestes Ergebnis seit drei Jahren. Auf Worte folgten Taten, denn schon in Assen hatte Crutchlow zu Motorsport-Magazin.com gemeint: "Ich bin noch immer davon überzeugt, einer der stärksten Fahrer der MotoGP zu sein. Die Ergebnisse werden schon bald folgen, denn mein grundsätzliches Leistungsniveau stimmt."

Wie wichtig Typen wie Crutchlow und Miller für die MotoGP sind, zeigte sich zuletzt in der Stunde ihrer Triumphe. Schon einmal einen Fahrer aus einem verschwitzten und völlig durchnässten Motorradstiefel Sekt trinken sehen? Gehörte für den Australier Jack Miller nach seinem ersten Sieg einfach dazu. Und Crutchlow erntete am Sachsenring die lautesten Lacher, als er die Überreichung eines Rings für die schnellste Rennrunde mit einem "Ich bin doch schon verheiratet!" quittierte. "Er ist ein Clown und will ständig irgendwelche Späße machen", charakterisiert Miller seinen Kumpel Cal. Und wer in Barcelona dabei war, als Crutchlow Journalisten, die vor dem benachbarten Truck von Repsol Honda auf eine Interviewmöglichkeit mit Marc Marquez warteten, mit Weintrauben bewarf und ihnen ein markiges "Hey, wieso seid ihr nicht zu meiner Interview-Session gekommen?!" um die Ohren knallte, der weiß, aus welchem Holz der Brite geschnitzt ist.

Doch warum ist das so? Warum können es sich Typen wie Crutchlow oder Miller leisten, jegliche political corectness über Bord zu werfen und einfach frei Schnauze zu sprechen? "Die anderen Fahrer sind wahrscheinlich nicht so starke Persönlichkeiten wie wir", urteilt Crutchlow. "Neben uns beiden gibt es gerade noch Valentino, vielleicht ein bisschen Marc und dann noch Petrucci. Aber der Rest? Sobald du in einem Werksteam unter Vertrag stehst, bist du quasi im Besitz des jeweiligen Herstellers. Ich würde zum Beispiel niemals lügen! 90 Prozent der Fahrer hier im Paddock aber schon", ist sich der Brite sicher. "Wenn bei meinem Motorrad überall Öl ausläuft, meine Rundenzeit dadurch absackt und man mir sagt, ich solle behaupten, ein Reifenschaden wäre für die schlechte Zeit verantwortlich - dann werde ich das mit Sicherheit nicht sagen!"

Diesen Grundsatz hält auch Miller in Ehren: "Durch meinen Aufstieg in die MotoGP habe ich mich nicht verbiegen lassen. Ich sage noch immer frei heraus, was ich mir denke. Natürlich bringt mich diese Art manchmal in Schwierigkeiten, aber Ärger bekommst du ohnehin früher oder später." Doch in der Motorrad-WM ist ein Paradigmenwechsel im Gange, denn mit einer steigenden Zahl an Herstellern, steigt auch die politische Korrektheit und die Kontrolle der Kommunikation im Fahrerlager an. Gab es noch vor zwei Jahren nur sechs reinrassige Factory Rider im Paddock, so ist diese Zahl in der kommenden Saison doppelt so groß. "Ja, man merkt, dass die großen Hersteller sich in der MotoGP breit machen", urteilt Miller. "Und natürlich kannst du nur in den kleineren Teams vollkommen ehrlich sein."

Cal Crutchlow siegte 2016 zweimal, Foto: LCR
Cal Crutchlow siegte 2016 zweimal, Foto: LCR

Crutchlow, 2014 für ein Jahre selbst Werksfahrer bei Ducati, kennt die Situation am eigenen Leib: "In meinen Anfängen bei Tech 3 Yamaha konnte ich alles sagen, was ich wollte. Herve (Poncharal; Tech-3-Teamchef) hat das alles nicht interessiert. Bei Ducati musste ich natürlich die Interessen der Marke respektieren. Seit ich beim LCR-Team bin, ist alles wieder ein wenig lockerer, auch wenn Honda schon immer genau auf alle Aussagen hört. Aber die wussten ja, wen sie sich mit mir ins Haus holen." Leere Worthülsen - wie man sie aus vielen anderen Rennserien kennt - sind in der MotoGP aber selbst in den Werksteams noch in weiter Ferne. Und so lange es Fahrer wie Miller oder Crutchlow gibt, muss man als Journalist meist nicht lange nach einer Headline suchen. Denn die bekommt man von den Herren mit der dicken Lippe frei Haus geliefert.

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