Einsen und Nullen, die Fahrern, Ingenieuren und Teamchefs den Verstand rauben können. Willkommen in der Welt der Elektronik der MotoGP-Bikes. Ohne steuernde Software geht bei den PS-Monstern der aktuellen Generation nichts mehr. Fällt sie aus oder geht sie kaputt, fliegt das Motorrad samt Fahrer wenig später ab. "Die Elektronik kann in vielen Fällen einfach schneller reagieren als der Fahrer selbst", erklärt Dirk Debus, der Elektronik-Experte bei Stefan Bradls ehemaligem Forward-Rennstall war, im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Die Leistung der Motorräder ist so riesengroß, dass du sie in den unteren vier Gängen reduzieren musst. Du gehst in allen Bereichen immer weiter ans Limit. Mittlerweile haben wir daher pro Rennwochenende rund 100 Gigabyte an Daten."

Der gesamte Bereich der Elektronik wurde in den letzten Jahren immer umfangreicher und die Systeme der einzelnen Hersteller immer ausgeklügelter. Tex Geissler, an Debus' Seite bei Forward für das Datarecording zuständig, führt aus: "Bei Testfahrten sind wir 14 bis 16 Stunden täglich mit der Auswertung der Daten beschäftigt. Am Rennwochenende kommst du mit 12 bis 14 Stunden durch, wenn alles reibungslos funktioniert." Doch was genau umfasst der vage Begriff "Elektronik" und wie genau arbeiten Experten wie Debus und Geissler damit?

Was steckt hinter der Elektronik?

"Im Grunde arbeiten wir mit folgenden Parametern: Geschwindigkeit des Vorder- und Hinterrades, Schräglage, Gasgriff, Motordrehzahl, Drosselklappen und Federweg. Diese Daten brauchen wir für die Einstellung der Traktionskontrolle, Wheelie- und Launch-Control und Motorbremse. Es gibt noch zig Hilfskanäle, die aber für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen sind", erklärt Debus. Sind all diese Daten gesammelt und ausgewertet, beginnt die gemeinsame Arbeit zwischen Ingenieuren und Fahrern. Denn bei immer knapperen Zeitabständen in der MotoGP kann jede noch so kleine Nuance die benötigte Hundertstelsekunde bringen.

Besonders in der Zusammenarbeit mit neuen Fahrern muss sich die Kommunikation mit den Technikern erst einspielen. Keine leichte Aufgabe angesichts der vielen Einstellungsmöglichkeiten der Software. "In so einem Fall greift man im Grunde auf das Setting aus dem Vorjahr zurück und packt auf alles fünf bis zehn Prozent mehr Sicherheit drauf. Dann sagt man dem Fahrer: jetzt ist alles stärker geregelt, fahr mal raus und gib uns dann Bescheid. Danach kann man beginnen, langsam bei einzelnen Parametern zu reduzieren", sagt Debus. Nicht alle Fahrer sind dabei gleich technisch versiert. Während manch einer auf jede winzige Änderung sensibel reagiert, bemerken andere kleinere Eingriffe gar nicht. Auch die Vorlieben des einzelnen Fahrers spielen eine entscheidende Rolle. Volle Motorleistung so früh wie möglich oder erst sobald das Motorrad aufrecht und stabil auf die Gerade zieht?

Geschmäcker sind auch beim Elektronik-Setting von MotoGP-Motorrädern verschieden. "Priorität hat immer der Fahrer, der sagt, was ihm gefällt und was nicht, welche Einstellung fahrbar ist und welche nicht. Wir versuchen dann, in den Daten zu erkennen, warum manches für denjenigen fahrbar ist und anderes riskant. Gleichzeitig müssen wir auch immer im Hinterkopf behalten, den Motor nicht kaputt zu machen - etwa über eine zu starke Rücknahme des Zündzeitpunkts", erklärt Debus. "Die Kommunikation zwischen Techniker und Fahrer ist also immer eine Zwei-Wege-Kommunikation. Der Fahrer kann nur mitteilen, ob er etwas mag oder wo ihm etwas nicht gefällt. Die Suche nach dem Warum und Verbesserungsvorschläge sind dann unser Job."

Die Kommunikation mit den Fahrern ist entscheidend, Foto: Repsol
Die Kommunikation mit den Fahrern ist entscheidend, Foto: Repsol

Großer Aufwand

Die immer komplexere Software verlangt den Beteiligten auch zeitlich immer mehr ab. Bis zu 5.000 Zahlen müssen zwischen zwei Trainings kontrolliert und ausgewertet werden. Hat man die richtigen Schlüsse gezogen und sich auf neue Parameter geeinigt, muss die neue Software programmiert und wieder in die Steuereinheit eingespielt werden. "Das Ganze muss dann natürlich noch für zwei Motorräder vorbereitet werden, die jeweils eine andere Übersetzung haben, und man muss vorbereitet sein, falls es regnet - also das ganze Mapping mal vier", erklärt Debus. Dieser Aufwand schmerzt vor allem die kleinen Teams im Moment am meisten. Während die großen Hersteller wie Honda oder Yamaha mit einer Heerschar an Dateningenieuren zu Felde ziehen, müssen bei den privaten Rennställen einige Wenige die ganze Zahlenlast alleine schultern.

Intelligente Technologie

Wie weit fortgeschritten die Elektronik-Technologie mittlerweile ist, zeigte sich etwa in Jerez an Andrea Iannones Ducati. Der Italiener aktivierte dort am Start versehentlich statt der Launch Control das Regenmapping. Iannone startete dadurch ohne die dafür vorgesehene Hilfe, fiel auf den ersten Metern heillos zurück und musste sich zudem mit den Motorrad-Einstellungen für Rennen unter nassen Bedingungen plagen. Allerdings wurde er gegen Ende immer schneller, was für Verwunderung im Paddock sorgte. Der Grund für Iannones "Wunderheilung": weil die Software seiner Ducati bemerkte, dass das Regenmapping nicht optimal funktionierte, passten sich einige Parameter selbstständig an.

Intelligente Algorithmen also, die den Fahrern ihre Arbeit massiv erleichtern. Kein Wunder, dass derart aufwendige Systeme derzeit die Geldverschlinger schlechthin in der MotoGP sind. Hersteller wie Suzuki, Aprilia und KTM entschieden sich erst zu ihrem MotoGP-Einstieg nachdem klar war, dass die teure Eigenentwicklung der Software per 2016 wegfallen wird. KTM-Sportchef Pit Beirer erklärte gegenüber Motorsport-Magazin.com unlängst: "Im Bereich der Elektronik kannst du locker zehn Millionen ausgeben, ohne dass für den Fan ein Ergebnis oder ein entscheidender Unterschied sichtbar ist. Es war wichtig, dieses Millionengrab zu schließen und die Einheitselektronik einzuführen." Diese kommt ab 2016 verpflichtend und wird für alle Teams der MotoGP gleich sein.

Entwicklungen auch für Serienproduktion wichtig

Für Debus ist dieser Schritt unter den aktuellen Rahmenbedingungen aber nicht mehr sinnvoll. "Es wird 2016 keine Open-Teams mehr geben und die Hersteller bringen nur mehr ihre eigenen Motorräder in den Werksteams und für Kunden auf die Strecke. Daher macht die Einheitselektronik eigentlich keinen Sinn mehr." Den Kostenfaktor für die Factory-Teams lässt Debus nicht gelten, denn was bislang in der MotoGP erprobt wurde, fand wenig später auch den Weg in die Serienproduktion. Die millionenschwere Investition in den Rennsport erspart dadurch herkömmliche Forschungskosten, macht die entwickelte Technologie für die Serie nutzbar und lässt sich für den jeweiligen Hersteller damit auf dem freien Markt wieder zu barer Münze machen. So fließt ein Teil des investierten Geldes über den Verkauf wieder zurück zum Hersteller.

Elektronische Assistenzsysteme haben längst in die Motorräder von Otto Normalverbraucher Einzug gefunden. "Was in der Motorrad-WM einst von den Japanern entwickelt wurde an Software und Kontrollmechanismen, war ein bis zwei Jahre später in den Straßenmotorrädern verfügbar. Damit hat alles angefangen. Heutzutage sind bei leistungsstarken Motorrädern Dinge wie Wheelie- und Launch-Control oder Traktionskontrolle mittlerweile auf breiter Basis serienmäßig verfügbar. Somit kannst du heute auch als Normalbenutzer ein kraftvolles 1000cc-Bike auf der Straße halten. Daher wäre es auch im Interesse der Hersteller, in der MotoGP in die jeweils eigene Richtung weiter zu entwickeln."

Vorerst haben Vermarkter Dorna und Weltverband FIM dem elektronischen Wettrüsten ab 2016 einen Riegel vorgeschoben - gegen den Widerstand von Yamaha und Honda. Die beiden Zweirad-Giganten sollen aber bereits an einer Alternativ-Software arbeiten, denn das System von Magneti Marelli soll den hohen Ansprüchen der Werksteams nicht genügen. Wie wichtig das Thema Elektronik im modernen Motorradsport ist, zeigt sich also alleine schon an der Tatsache, dass die beiden Erzfeinde Yamaha und Honda nun gemeinsame Sache machen.

Kleines Lexikon der Elektronik

Traktionskontrolle Ein durchdrehendes Hinterrad ist nicht nur schlecht für jeden Reifen, sondern auch der Beschleunigung wenig zuträglich. MotoGP-Motorräder sind daher mit einer Traktionskontrolle ausgestattet. Über die Elektronik wird festgelegt, um wieviel sich das Hinterrad maximal schneller als das Vorderrad drehen darf. Wird dieser Wert überschritten, wird das Hinterrad über Rücknahme des Zündzeitpunkts verlangsamt, was das Durchdrehen des Hinterrades abschwächt.

Motorbremse Um MotoGP-Bikes in harten Bremszonen von rund 350 km/h auf unter 100 zu bekommen, ist jedes Hilfsmittel willkommen. Deshalb wird neben den Karbonbremsen auch auf die Bremswirkung des Motors zurückgegriffen. Da das Herunterschalten in der MotoGP vor allem dank des stufenlosen Getriebes sehr schnell von statten geht, steuert die Elektronik die Motorbremse. Die Bremswirkung kann dabei für verschiedene Phasen des Bremsvorgangs und je nach Schräglage individuell eingestellt werden.

Anti-Wheelie Wheelies sind zwar spektakulär und auf Auslaufrunden gerne gesehen, im Rennen möchte man diese aber so gut wie möglich vermeiden. Bei abgehobenem Vorderrad ist die Kraftübertragung auf den Asphalt nicht mehr optimal, was beim Herausbeschleunigen wertvolle Zeit kostet. Über die Elektronik kann geregelt werden, um wieviel das Vorderrad abheben darf. Wird dieser Grenzwert überschritten, nimmt die Elektronik Motorleistung weg, sodass sich die Front wieder absenkt, ohne dass der Fahrer über den Gasgriff selbst eingreifen muss.

Launch Control Im Grunde ist die Launch Control eine Form der Traktionskontrolle, die durchdrehende Räder am Start verhindert. Bei den MotoGP-Bikes muss die Launch Control aber über einen eigenen Knopf aktiviert werden, da Motorräder nur ein einziges Mal im Rennen aus dem Stand losfahren.

Mapping Ein komplettes Set an Einstellungen. In der modernen MotoGP-Elektronik können die Parameter für jede einzelne Kurve verändert werden. So fährt das Motorrad in einer Spitzkehre mit anderen Einstellungen als in einer schnellen S-Kombination und verhält sich dementsprechend beim Herausbeschleunigen und Anbremsen in den entsprechenden Sektoren auch anders. Im Grunde weiß die Elektronik stets in welchem Abschnitt der Strecke sich das Motorrad befindet und ruft entsprechend des Mappings die korrekten Einstellungen für diese Position ab. Da aber Koordinationshilfen wie GPS in der MotoGP verboten sind, muss sich die Elektronik anhand von Abständen zwischen Kurven oder Längen von Geraden orientieren, die voreingespeichert sind. Fährt ein Fahrer Abkürzungen oder stürzt, kann das System schon einmal die Orientierung verlieren und die falschen Einstellungen für die falschen Kurven abrufen. Während eines Rennens kann der Fahrer unter diversen Mappings wechseln, zum Beispiel wenn der Reifen abbaut.

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