Als sich eines Tages Ende der 50er Jahre die Tür der Rechtsanwaltskanzlei in Bergamo öffnet, betritt ein Herr mit seinem traurig dreinblickenden Sohn den Raum. Er bläst seit Wochen Trübsal, da ihn sein Vater partout keine Motorradrennen fahren lassen will, er aber als Minderjähriger gesetzlich auf dessen Erlaubnis angewiesen ist. Der Junge ist Giacomo Agostini.

Einem in der Kanzlei als Notar beschäftigten Freund seiner Eltern fällt die Gemütslage des jungen Mannes sofort auf. Giacomo erklärt ihm die Situation, woraufhin der Jurist Agostini Senior von den Vorzügen der sportlichen Betätigung überzeugt. Giacomos Vater willigt nach langem Zaudern schließlich ein und unterschreibt das Dokument, welches seinem Sohn erlaubt, an offiziellen Rennen teilzunehmen. Die Genehmigung ist bereits notariell beglaubigt, da realisiert der etwas begriffsstutzige Anwalt erst seinen Fehler. Giacomo hatte von Motorradrennen gesprochen, während er die ganze Zeit Radrennen im Kopf hatte. Für einen Rückzieher ist es zu spät, Agostini ist mit dem Dokument in Händen bereits auf dem Weg zum nächsten Motorradhändler, um dort seine erste Rennmaschine zu kaufen.

Am 25. April 1965 steht Agostini im Alter von 22 Jahren schließlich erstmals ganz oben auf dem Podium eines Grand Prix. Er gewinnt in der Klasse bis 350ccm den Großen Preis von Deutschland am Nürburgring. Die Initialzündung zur ruhmreichsten Laufbahn, die die Motorradwelt bisher gesehen hat.

Pay-Driver

Mit der offiziellen Bestätigung seines Vaters darf der junge Giacomo zwar an Rennen teilnehmen, doch fehlt ihm dazu noch das wichtigste Utensil - ein Motorrad. Auf finanzielle Unterstützung von Agostini Senior kann er nicht bauen, also versucht Giacomo beim Moto-Morini-Händler in Bergamo einen Deal auszuhandeln. Er bekommt schließlich eine Maschine zur Verfügung gestellt, muss allerdings monatlich 4.000 Lire zurückzahlen - in etwa zwei Euro.

Seine erste Weltmeisterschaft bestritt Agostini mit einer MV Agusta, Foto: MV Agusta
Seine erste Weltmeisterschaft bestritt Agostini mit einer MV Agusta, Foto: MV Agusta

Nach zwei Titelgewinnen auf Moto Morini in der italienischen Meisterschaft hat er die Aufmerksamkeit von Graf Domenico Agusta - Inhaber von MV Agusta und Sohn des verstorbenen Firmengründers Giovanni - geweckt. Agusta beauftragt seinen Ingenieur Arturo Magni, ein Treffen mit Agostini zu arrangieren. Giacomo erscheint zum vereinbarten Termin morgens im MV-Agusta-Werk in Cascina Costa nahe Mailand. Die Dame am Empfang bittet ihn um etwas Geduld. Der Graf werde ihn bald empfangen. Unzählige Stunden vergehen, in denen Agostini ohne etwas zu Essen oder zu Trinken vor dem Büro ausharren muss. Am Abend ruft Graf Agusta ihn schließlich herein, nur um ihn zu fragen, was er denn wolle. Auf die selbstbewusste Antwort hin, er habe vor, für MV Agusta Rennen zu fahren, meint der Hausherr lediglich, dass der Jungspund wohl kaum in der Lage sei, eine seiner Maschinen zu pilotieren.

Der Graf erlaubt Agostini dennoch Testfahrten im Königlichen Park von Monza, allerdings nur durch eine Reihe Pylonen auf der Start-Ziel-Geraden - ein demütigendes Prozedere für einen zweifachen Staatsmeister der Motorradgroßmacht Italien. Doch die Mühen sollten sich bezahlt machen. Die endlose Warterei, die Überheblichkeit Agustas und die beinahe lächerlichen Testfahrten stellen sich als Maskerade heraus. Der Graf wollte den Neuankömmling prüfen und sehen, ob er denn seiner Marke auch den nötigen Respekt entgegen bringen würde. Agostini hatte mit Bravour bestanden und ging 1965 mit MV Agusta in seine erste volle Weltmeisterschaftssaison

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Frauenheld

Beim zweiten Saisonlauf 1965 in Hockenheim fährt Agostini dann bereits seinen ersten Sieg in der 350ccm-Weltmeisterschaft ein. Noch im selben Jahr gewinnt er im finnischen Imatra auch sein erstes 500ccm-Rennen. Sowohl bei den 350ern als auch den 500ern wird er am Saisonende Zweiter in der Gesamtwertung. Die Königsklasse entscheidet ein gewisser Mike Hailwood für sich, der damit seinen vierten Titel in Serie auf der 500ccm-Maschine einfährt - damals ein neuer Rekord. Es verwundert nicht, dass Agostini, der in seiner Karriere gegen Fahrer wie Barry Sheene, Kenny Roberts Senior oder Jim Redman kämpfte, Hailwood noch heute als seinen mit Abstand härtesten Gegner bezeichnet.

Eines ihrer legendärsten Duelle lieferten sich die Beiden bei der Tourist Trophy auf der Isle of Man im Jahr 1967, als sich Hailwood und Agostini Runde um Runde über den mehr als 60 Kilometer langen Kurs jagten. Im letzten von sechs Umläufen riss Agostini in Führung liegend die Kette seiner MV Agusta, Hailwood siegte. Ganz wie es sich für einen Gentleman von der Insel gehört, tröstete dieser daraufhin seinen weinenden Gegner. Ob man mit der Art seines Trosts in der britischen Oberschicht einverstanden gewesen wäre, sei jedoch dahin gestellt. "Er hat gesehen, wie ich geweint habe und mir versprochen, mich aufzumuntern", erinnert sich Agostini. "Am Abend durfte ich mich dann mit seiner Freundin vergnügen. Das war wirklich nett von ihm."

Anekdoten wie diese lassen in etwa erahnen, wie die Zweiradhelden der damaligen Zeit lebten. Vor allem der gutaussehende Agostini mit seinem strahlenden Lächeln und den lockigen, schwarzen Haaren hatte es der Damenwelt angetan. Besonders in Erinnerung geblieben ist dem mittlerweile 73-jährigen Ehemann und Familienvater eine Verehrerin auf der Isle of Man. Jeden Morgen, wenn Agostini zum ersten Mal den besonders anspruchsvollen Streckenteil Ballaugh Bridge passierte, begrüßte sie ihn mit dem Heben ihres Kleides. Darunter trug sie nichts. "Sie muss wohl immer die Unterwäsche vergessen haben, weil es noch so früh war", schmunzelt Agostini.

Siegertyp

Schon in seiner zweiten Saison 1966 in der Weltmeisterschaft gewann "Ago" erstmals den Titel in der 500ccm-Klasse, bei den 350ern musste er sich mit Rang zwei begnügen. Das Jahr 1967 endete mit dem gleichen Ergebnis für ihn. Von 1968 an war er allerdings für die kommenden fünf Jahre praktisch unschlagbar. Er gewann in diesem Zeitraum alle zehn Titel in seinen beiden Klassen und sah nur zwei Mal die Zielflagge nicht als Erster. Insgesamt gewann er in dieser Ära bei MV Agusta von 1965 an 13 Weltmeistertitel und 108 Grands Prix, was ihn, vor allem in seiner italienischen Heimat, zu einem absoluten Superstar machte. Es dauerte nicht lange und Agostini wurde von der italienischen Filmindustrie entdeckt und spielte in drei größeren Produktionen mit. Worum es darin ging? "Motorräder, Frauen und Liebe", lautet die kaum überraschende Antwort des temporären Leinwandstars.

Agostini fuhr mit Yamaha seinen letzten Titel ein, Foto: Yamaha
Agostini fuhr mit Yamaha seinen letzten Titel ein, Foto: Yamaha

1974 drohte der Ikonenstatus Agostinis in Italien allerdings ins Wanken zu geraten. Nach sieben 500ccm-Titeln in Serie musste er sich in der Vorsaison mit Rang drei zufrieden geben. Er sah auf der Viertakter von MV Agusta keine Zukunft mehr und wechselte zu Yamaha, wo man eine Zweitakt-Maschine entwickelt hatte. Für Agostinis Landsleute brach eine Welt zusammen. Traditore - einen Verräter - nannte man ihn. Doch der Erfolg gab ihm Recht. Nach einem Jahr Eingewöhnung bei seinem neuen Arbeitgeber fuhr er seinen 15. und letzten Titel ein - den des 500ccm-Champions 1975. Damit hatte Yamaha noch vor Honda als erster japanischer Hersteller eine Weltmeisterschaft in der Königsklasse für sich entscheiden. Das reichte der Konzernspitze offenbar und man zog sich mit Ende der Saison zurück.

Agostini stand ohne Motorrad da, hatte mittlerweile aber die finanziellen Mittel und die Unterstützung von Sponsoren, um ein Privatteam auf die Beine zu stellen. Er experimentierte mit Maschinen von Suzuki, doch fand schließlich wieder zu seiner ersten großen Liebe MV Agusta zurück. Im 500ccm-Rennen auf der Nordschleife brachte er damit 52 Sekunden zwischen sich und seinen ersten Verfolger Marco Lucchinelli. Es war der 29. August 1976 und Agostini gewann elf Jahre nach seinem ersten Grand-Prix-Erfolg am selben Ort sein letztes Rennen. Dazwischen liegt die größte Karriere in der Geschichte der Motorrad-Weltmeisterschaft.

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