Dirk, wir wissen nun, dass Valentino Rossi am Sonntag von ganz hinten starten wird. Wen tippst du unter diesen Voraussetzungen als neuen Weltmeister?
Dirk Raudies: Wir haben eine komplett neue Situation und es wird spannend zu sehen sein, wie weit es Vale nach vorne schafft. Die Entscheidung, dass er von hinten starten muss ist für die Fans allerdings nicht so gut. Es wäre spannende gewesen, die beiden im direkten Duell um den Titel kämpfen zu lassen. Es ist nun die Frage, ob Valentino am Sonntag überhaupt noch in diese Position kommt. Es wird sehr schwierig, aber wer weiß, ob nicht der Wettergott sich am Ende auch noch als Rossi-Fan entpuppt. Langweilig wird es am Sonntag aber auf keinen Fall.

Ging die Strafe gegen Valentino in Sepang für dich in Ordnung?
Dirk Raudies: Die Entscheidung fiel der Rennleitung sicher schwer. Drei Strafpunkte gehen für diese Aktion in Ordnung, aber leider wurde dadurch ja der vierte Strafpunkt aus Misano schlagend. Dadurch muss er nun nach ganz hinten und hier gehen die Meinungen auseinander. Aus meiner Sicht war der Vorfall eine Reaktion von Rossi auf Marquez, die bedeutete: Pass auf und fahr nicht immer mit Körperkontakt. Das wollte er ihm deutlich zeigen, ist aber leider schiefgegangen. Rossi hatte sicher nicht die Absicht, Marquez zu Sturz zu bringen. Er wollte ihn in die Schranken weisen, aber Selbstjustiz ist kein probates Mittel. Man hätte es aber so jonglieren können, dass die Strafe bis nächste Saison ausgesetzt wird, weil die Rückversetzung ausgerechnet beim Finale sehe ich als zu hart an.

Hat Rossi diese Aktion von Marquez im Rennen aber nicht durch seine Aussagen am Donnerstag provoziert?
Dirk Raudies: Ja, das denke ich schon. Vor allem weil ich Valentinos Vorwurf - Marquez wäre auf Phillip Island für Lorenzo gefahren - überhaupt nicht nachvollziehen kann. Man darf nicht vergessen, dass Marquez erst 22 Jahre alt ist. Der hat im Rennen sicher gedacht: 'So über mich reden? Dir zeige ich jetzt, was Stören bedeutet.' Das ist jetzt zwar nur eine Mutmaßung von mir, aber ich kann mir schon vorstellen, dass sich die Sache durch die Aussagen vom Donnerstag hochgeschaukelt hat. Marquez Stören von Rossi war aber keine gewollte Hilfsaktion für Lorenzo, sondern einfach um ihm zu zeigen: Kumpel, so redest du nicht über mich.

Kannst du die aggressiven Postings und verbalen Anfeindungen von Fans in den sozialen Medien nachvollziehen?
Dirk Raudies: Nein, da hört der Spaß auf! Dinge wie Drohungen und üble Beschimpfungen haben hier nichts verloren. Es ist immer noch ein Sport und Sportler machen Fehler. Auch Rossi hat in Sepang einen Fehler gemacht - keine Frage. Dass Marquez nun so angegriffen wird, ist nicht fair. Das sind teilweise Fans, die ihre jeweilige Brille aufhaben und wegen ihrer Scheuklappen nicht links und rechts schauen. Dadurch schießen sie über das Ziel hinaus und lassen sich zu solchen verbalen Entgleisungen hinreißen. Klar, Marquez hat eine aggressive Fahrweise, aber genau diese hat uns in den letzten drei Jahren ja jede Menge spannender Rennen beschert. Hier könnte aber die Race Direction vielleicht eingreifen, damit der Junge in Zukunft etwas ruhiger und der Sport dadurch vielleicht etwas sicherer wird.

Was kann man unternehmen, damit man in Zukunft derartigen Eskalationen auf der Rennstrecke zwischen zwei Fahrern vorbeugt?
Dirk Raudies: Gar nichts. Man kann einem Rennfahrer schon zureden, aber sobald der Helm auf ist, ist meistens alles vergessen. Diese spezifische Situation hat sich aber bereits über die ganze Saison etwas hochgeschaukelt. Sepang war letztlich nur die Initialzündung. Man kann die Fahrer schon mehr bestrafen, um sie zu mehr Vorsicht zu bewegen. Aber in dem Moment, wo du in einem Zweikampf bist, entscheidet man in Millisekunden ohne einen Gedanken daran zu verlieren, was das für Auswirkungen auf Strafen hat. Motorradsport ist in gewisser Weise ja auch Kampfsport.