Jorge Lorenzo sitzt fast eine Minute lang mit steinerner Miene auf seiner Yamaha. Er tuschelt mit seinem Crewchief, schüttelt mehrfach den Kopf und zieht zaghaft an seiner Trinkflasche. Wenige Meter weiter strahlt Marc Marquez mit der Sonne über Silverstone um die Wette, zieht die Kameralinsen und Blitzlichter auf sich und kann selbst kaum fassen, was ihm wenige Minuten zuvor gelungen war.

Abgespielt hat sich diese Szene im Parc ferme nach dem Qualifying zum Großbritannien GP am Samstag. Marquez hatte eben Casey Stoners Rekordrunde aus dem Jahr 2011 zertrümmert und Lorenzo auf Rang zwei verwiesen - obwohl dieser die nach eigenen Angaben beste Quali-Runde seiner Karriere gefahren hatte. Diese Szene im Parc ferme steht stellvertretend für das Wesen der bisherigen Saison. An Super-Rookie Marc Marquez verzweifelte zunächst Teamkollege Dani Pedrosa und nun auch Weltmeister Jorge Lorenzo. Doch wie und warum treibt der 20-jährige Spanier die etablierten Stars zur Weißglut?

Da wäre zunächst die sportliche Seite: Sowohl Pedrosa als auch Lorenzo starteten stark in ihre MotoGP-Karrieren, fuhren jeweils beim Debüt auf das Podium und gewannen im ersten Jahr Rennen. Was Marquez bislang aber gelang, stellt die Leistungen seiner beiden Landsleute ganz klar in den Schatten. Rekorde ließ der 20-jährige Moto2-Weltmeister in den ersten Monaten "seiner Ära" nur so purzeln. Niemand beherrscht sein Motorrad so gut wie Marquez. Wer das nicht glaubt, dem seien die Superzeitlupen diverser Slide-Einlagen oder Bilder der völlig blank gescheuerten Ellbogenschoner ans Herz gelegt. Und all das im ersten Jahr - kein Wunder, dass die am Zenit stehende (oder darüber hinaus befindliche; Stichwort: Rossi) Konkurrenz daran verzweifelt.

Darüber hinaus hat Marquez auch bei den Sympathiewerten mittlerweile Vorteile. Veteran Colin Edwards meinte in Brünn zu Motorsport-Magazin.com: "Er lächelt immer, hat ein freundliches Wesen und liebt seinen Beruf. Er ist vor allem keine Primadonna - im Gegensatz zu manch anderem Fahrer. Er weiß, dass er kein Arschloch sein muss, nur weil er ein Motorrad schneller fahren kann als die meisten Menschen. Das gibt es heutzutage leider nicht mehr allzu oft."

Marquez stiehlt Lorenzo die Show, Foto: Repsol Honda
Marquez stiehlt Lorenzo die Show, Foto: Repsol Honda

Auch die spanischen Journalisten hat Marquez längst auf seine Seite gezogen - und das dürfte vor allem Lorenzo sehr wehtun. Gerade eben als erster Spanier zum Doppelweltmeister gekürt, stiehlt ihm ein Neuling die Show. Die Jubelstürme der sehr emotionalen iberischen Kollegenschaft im Media Center sind bei Überholmanövern oder gar Siegen von Marquez längst um einiges frenetischer als bei jenen von Lorenzo. Diese These habe ich mit eigenen Augen und vor allem Ohren bereits in Mugello (Lorenzo-Sieg), am Sachsenring (Marquez-Sieg) und in Brünn (Marquez-Sieg) vergleichen und definitiv verifizieren können. Dass Lorenzo mit der gestohlenen Show nicht wirklich umgehen kann, bewies das Yamaha-Ass erstmals nach dem Rennen in Jerez. Dort ließ er sich von Marquez durch dessen hartes, aber faires Manöver seinen Rang abluchsen und spielte danach die beleidigte Leberwurst. Seither wurden einsilbige Antworten des Weltmeisters auf Journalisten-Fragen bei diversen Medienterminen immer häufiger.

Marquez hingegen ist bislang die personifizierte Antithese einer Primadonna. Selbst nach seinen heftigen Abflügen in Mugello mit geschwollenem und blau leuchtendem Kinn verlor er sein Lächeln nicht. Dass er seine Rekordzeit in Silverstone selbst kaum glauben konnte, nimmt man dem 20-Jährigen ab, wenn man ihm in die weit aufgerissenen Augen sieht. Die vergangenen zehn Jahre gehörten in den spanischen Zeitungen zunächst Sete Gibernau, dann dem Duell der beiden Hoffnungen Pedrosa und Lorenzo. Gegen Marc Marquez sehen nun alle drei ganz schön blass aus.