Sicher ist es vielen Lesern wie mir gegangen. Schnell mal nachgerechnet: wie groß wäre Sebastian Vettels Rückstand in der WM, wenn er in Singapur nicht diese dumme und ungerechtfertigte Durchfahrstrafe erhalten hätte? Im schlechtesten Fall wäre er Zweiter geworden statt Vierter - macht drei Punkte Bonus. Und angenommen, die Brawn-Piloten hätten ihre Qualifying-Strafe in Suzuka wirklich so absitzen müssen, wie es jeder Sport-Fan als gerecht empfinden würde?

Denn "fünf Plätze nach hinten" sollte in gewissem Sinne bedeuten, fünf Plätze nach hinten zu rutschen. Und nicht nur einen wie Barrichello. Ich behaupte: von Platz 12 aus hätte es Jenson Button nicht geschafft, diesen einen Punkt zu holen. Macht also schon vier Punkte Unterschied, die Vettel da durch die Lappen gegangen sind. Ohne eigenes Verschulden. Und mit 12 Punkten Rückstand statt 16 sähe die Situation bei Sebastians derzeitiger Form noch deutlich rosiger aus. Man sollte das Regelbuch den Verfassern um die Ohren hauen. Denn immer wieder kommt es in der Formel 1 zu Situationen, an die die Regelmacher der FIA aus irgendwelchen Gründen nicht gedacht haben.

Der schwierigste Job der Formel 1

Bei der Boxeneinfahrt wurde nicht gleich gemessen., Foto: Sutton
Bei der Boxeneinfahrt wurde nicht gleich gemessen., Foto: Sutton

Ich gebe zu, Charlie Whiting hat den miesesten Job der Formel. Jedes Jahr wird ein neues Reglement zusammengeflickt. Alle Teams reden mit. Jeder reklamiert Dinge rein, die er für wichtig hält. Irgendwann kurz vor der Saison wird das Regelbuch dann doch noch irgendwie fertig. Die Teammanager gehören zu den wenigen, die meist auf dem Flug nach Australien das 50 Seiten dicke Ding wirklich Zeile für Zeile durchlesen. Im Frühjahr kommen dann im Wochentakt noch ein paar Ergänzungen dazu. Und irgendwann steht der arme Charlie Whiting dann da und muss ein paar Scherz-Urteile rechtfertigen wie diese Rückversetzungen in Japan, weil niemand dran gedacht hat, dass mehrere Fahrer gleichzeitig unter Gelb voll am Gas bleiben. Im Extremfall könnte die bestehende Regel bedeuten: kein Fahrer lupft bei Gelb und trotzdem bleiben alle auf ihrem Startplatz, weil sie ja die gleiche Strafe aufgebrummt bekommen. Ob das der Geist der Regel ist?

Ich habe Charlie Whiting schon zu Beginn dieser Saison auf die Problematik hingewiesen. Die Formel 1-Regeln sind lückenhaft. Das wäre im Prinzip nicht weiter schlimm. Auch die Regeln im Fußball, Eishockey oder Schwimmen sind nicht perfekt. Das Problem ist allerdings: Nirgendwo sonst werden die technischen und sportlichen Regeln mit solcher Unverschämtheit und Selbstverständlichkeit ausgereizt wie in der Formel 1. Daher hat das Reglement noch wasserdichter zu sein als überall anders. Und wenn Red Bull beweisen kann, dass Vettel in Singapur nie schneller war als 100 km/h, weil er eine (korrekte) Linie in die Box gefahren ist, die die FIA (fälschlich) nicht auf der Rechnung hatte, dann fehlt es ganz offensichtlich am grundlegenden Verständnis für die Materie.

Sieger ohne Rennen

Die Strafen in Suzuka konnte nicht jeder nachvollziehen., Foto: Sutton
Die Strafen in Suzuka konnte nicht jeder nachvollziehen., Foto: Sutton

Einige Fehler wurden in der Vergangenheit ja erkannt und zu Recht korrigiert. Einen Sieg beim Absitzen einer Strafe nach der Zieldurchfahrt wie bei Michael Schumacher in Silverstone wird es nie wieder geben. Trotzdem sind die Regeln noch voll von Lücken, die für viel Aufruhr sorgen könnten. Wussten die geschätzten Leser beispielsweise, dass man einen Grand Prix gewinnen kann, ohne ihn gefahren zu sein? Im Frühjahr hätte der Fall beim Regenrennen in Malaysia fast eintreten können. Wenn nämlich ein Rennen gestartet wird, gilt es ab der dritten Runde als gefahrener Grand Prix. Das gilt auch, wenn es hinter dem Safety Car gestartet wird. Und - jetzt kommt's: auch wenn es hinter dem Safety Car zu Ende geht. Wird also z.B. nach fünf Runden abgebrochen, weil der Regen immer stärker wird, dann haben wir einen Sieger, im Normalfall den Pole Position-Mann. Rennen hat trotzdem keines stattgefunden.

Eine beliebte Lücke ist auch die neue 25-Sekunden-Strafe, wenn ein Fahrer erst drei Runden vor dem Ende eine Strafe erhält und nicht mehr zur Box kommen kann oder will. Sowohl bei einer Drive-through-Strafe als auch bei einer 10-sekündigen Stop-an-go werden am Ende 25 Sekunden dazu gezählt. Was aber, wenn zwei Piloten um den Sieg kämpfen und beide leisten sich ein Vergehen? Drei Runden vor dem Ende. Zwei Fahrer liegen innerhalb einer Sekunde: Fahrer A liegt auf Rang 1 und begeht einen gröberen Verstoß (z.B. Blocking). Er kriegt eine Stop-and-Go, die er aber nicht absitzt. Gleich dahinter ist Fahrer B auf Rang 2. Er erhält für eine Kleinigkeit (er kürzt z.B. eine Schikane leicht ab) eine Durchfahrstrafe. Auch er sitzt sie nicht ab. Fahrer A (10 Sekunden stop and go) gewinnt vor Fahrer B (nur Drive-through), weil beide 25 Sekunden drauf gekriegt haben.

Lösungen vorgeschlagen

Im neuen Jahr soll alles besser werden., Foto: Sutton
Im neuen Jahr soll alles besser werden., Foto: Sutton

So ginge es beliebig weiter. Mit dem Zwang beide Reifenmischungen zu verwenden, wenn ein Rennen abgebrochen wird. Oder mit der Erlaubnis, in der Formationsrunde zurückfallen zu dürfen und wieder zu überholen, solange man nicht Letzter im Feld ist. (dürfte ein Team in diesem Fall seinen zweiten Fahrer "opfern", der sich hinter den Teamleader fallen lässt, wenn der Probleme hat, wegzukommen?) Charlie Whiting hat versprochen, meine Vorschläge für Regeländerungen den Teams beim nächsten Meeting vorzulegen. Ein paar Wochen später hatte er mit der Spaltung der Formel 1 zu tun, dann mit dem Ausstieg eines Werkes, dann kam Crashgate. Ich nehme an, die Vorschläge liegen noch in seiner Schublade, um im Winter verabschiedet zu werden. Generell bin ich dagegen, das Scheitern eines Piloten immer widrigen Umständen zuzuschreiben. Ich glaube an die ausgleichende Gerechtigkeit. Und Sebastian Vettel hat weder Mitleid noch kollektiven Ärger nötig. Der Bursche wird so oder so ein ganz Großer. Und ein wenig Wut im Bauch kann ja auch beflügeln. Wie man in Suzuka ja deutlich sehen konnte.