Irgendwann wurde in den vergangenen Wochen hinter irgendeiner verschlossenen Türe in Maranello eine richtungsweisende Entscheidung getroffen. Irgendwer hat sich an die gute alte Ferrari-Tradition erinnert: Herz statt Hirn. Und plötzlich war der Vorhang offen für eines der tollsten Formel-1-Reality-Experimente seit Jean-Louis Schlesser im Williams anno 1988.

Für die jüngeren Leser: Der nicht mehr ganz taufrische Franzose, dessen Revier eigentlich die afrikanische Wüste bei der Dakar-Rallye war, durfte Nigel Mansell in Monza ersetzen, als dieser mit Windpocken darniederlag. Schlesser schrieb im einzigen Grand Prix seines Lebens sogar Geschichte. Als kurz vor Schluss der meilenweit führende Ayrton Senna zum Überrunden ansetzte, stellte sich der Franzose so dämlich an, dass Senna am Ende hilflos auf dem Randstein festklebte. Gerhard Berger erbte einen unverhofften Ferrari-Sieg im Autodromo, nur wenige Wochen nachdem Enzo Ferrari von dieser Erde gegangen war.

Nicht beim Commentadore

Was hätte der alte Commentadore wohl zu diesem Badoer-Experiment gesagt? Ich bezweifle, dass irgendjemand in Maranello den Mut gehabt hätte, ihm diesen Vorschlag zu machen. Enzo Ferrari hätte zum Telefon gegriffen (Handy gab's ja noch keines) und hätte die Nummern jener Fahrer angerufen, die ihm als Gegner das Leben schwer machen: Fernando Alonso zuerst mal. Hätte er den nicht bekommen, dann wohl Vettel, dann wäre Kubica dran gewesen. Und Luca Badoer hätte er zum Spielen rausgeschickt, irgendeinen neuen Sportwagen-Prototypen mal um die hauseigene Teststrecke wetzen lassen. Ich bezweifle auch, ob später Jean Todt sein OK zu einem Einsatz des Testfahrers gegeben hätte. Im Falle des Michael Schumacher-Unfalls von 1999 hat er ja deutlich gezeigt, was er von Badoer so hält.

Luca Badoer ist ein wirklich guter Junge. Grad deswegen haben alle in der Formel 1 jetzt einen gehemmten Beißreflex. Auch wenn er im Freien Training vier Mal in der Boxengasse zu schnell ist und über 5.000 Euro Strafe kassiert. Auch wenn er im Qualifying vorgeführt wird und im Rennen gleich zwei Böcke beim Rausfahren aus der Box schießt. Luca weiß, dass er eigentlich nicht mehr hierher gehört. Und dieser völlige Mangel an Ferrari-typischer Arroganz macht das Märchen noch sympathischer.

Pasta mit Luca

Ich war mit ihm mal einen ganzen Tag lang in Fiorano unterwegs beim Testen. Luca muss in seinem Leben dort Millionen Runden abgespult haben. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, jede Runde sei für ihn gerade die wichtigste. Zu Mittag fuhren wir in seine Lieblings-Osteria zum Nudelessen. Luca hat den roten Rennanzug angelassen. Ein Priester zieht seine Arbeitskleidung ja auch nicht aus, wenn er zum Essen geht. In seinem Maserati (ja, F40 gibt's nur für die erste Ebene. Soviel Hierarchie muss sein) fuhr er gemächlich zum Essen.

Badoer kennt Fiorano und Mugello auswendig. Für die weite F1-Welt reicht das nicht mehr., Foto: Sutton
Badoer kennt Fiorano und Mugello auswendig. Für die weite F1-Welt reicht das nicht mehr., Foto: Sutton

Auf der Straße winkten ihm viele Menschen zu. Die Wirtin zerrte ihn sofort in die Küche, um ihm die handgemachte Pasta zu zeigen, die bereits für ihn vorbereitet war. Zahlen musste er natürlich nichts. Und wenig später saß er schon wieder im roten Rennauto, um für Michael Schumacher irgendwelche Launch Control Settings zu perfektionieren. Das war und ist die Welt von Luca Badoer.

Kein Plan B

Das Badoer-Experiment zeigt uns zwei Dinge: Erstens hat Ferrari die Saison abgeschrieben. Sonst würde man sich nicht so der Lächerlichkeit preisgeben. Die WM ist in weiter Ferne. Und ob man nun Dritter oder Vierter in der Konstrukteurswertung wird, scheint nebensächlich. Vermutlich hat man ganz andere Probleme zu lösen. Denn Ferrari spielt nach fast 20 Jahren erstmals wieder "casino". Personell ausgedünnt und politisch ein Schatten der Vergangenheit. Und das ist gut so, denn dadurch hat Ferrari wieder ein menschliches Antlitz bekommen.

Zweitens hat Ferrari keinen Plan B, wenn mal was schiefgeht. Luca Badoer fährt aus Dankbarkeit und Hilflosigkeit. Beides ist aber in der Formel 1 der Weg in die Mittelmäßigkeit. Was wurde aus den drei Youngsters, die im Winter in Fiorano getestet haben? Mirko Bortolotti hat den Streckenrekord von Kimi Räikkönen pulverisiert. In der Formel 2 stellt er sich ordentlich an. Die Superlizenz hätte da nur eine Formalität sein dürfen. Ich behaupte: der Italo-Österreicher hätte sich nicht schlechter als Badoer angestellt. Aber da kommt wieder der alte Enzo ins Spiel: Ferrari war selten eine Ausbildungsstätte. Ferrari wollte die Besten unter den fertigen Rennfahrern. Und meistens hat man sie auch bekommen.

Herz siegt über Hirn

Luca Badoer zieht gerne den Helm für Ferrari über., Foto: Sutton
Luca Badoer zieht gerne den Helm für Ferrari über., Foto: Sutton

Die letzte Conclusio: Es gibt in der Tat keinen freien Fahrermarkt mehr, wie schon Niki Lauda erkannt hat. Die fitten, rennfertigen Piloten sind alle irgendwo unter Vertrag. Der Nachwuchs hat es mangels Testmöglichkeiten schwer, sich aufzudrängen. Und die vertragslosen Routiniers fallen in die Kategorie Villeneuve, Ralf Schumacher oder Takuma Sato. Ein Rätsel bleibt weiterhin, warum Ferrari nicht auf den deutlich fitteren Marc Gene zurückgegriffen hat. Der hat heuer Le Mans gewonnen. Und er war nie langsamer als Badoer. Marc wäre eine logische Wahl gewesen.

Aber wie gesagt: das Herz hat das Hirn geschlagen und so sitzt Luca Badoer in Spa wohl wieder im Cockpit. Und er wird zu 100% das machen, was Ferrari von ihm verlangt. Und wenn's nötig ist, macht er sich nur so lange zum Affen, bis sie ihn nach Maranello zurückbeordern, weil sie einen besseren haben. Luca wird nicht murren. Und er wird auch keinen Grund dazu haben. Er hat nach dem Valencia Grand Prix völlig richtig erkannt: "Die Formel 1 heute ist eine völlig andere Welt. In jeder Hinsicht..." Seine eigene Welt läuft ihm ja nicht davon. Und die Pasta wird in zehn Jahren auch noch für ihn persönlich hergerichtet werden. Zumindest, wenn er im Overall kommt. Und ganz ehrlich - wer von uns hätte nicht ja gesagt, wenn man ihn gebeten hätte, diese Welt für ein paar Wochen hinter sich zu lassen?