Felipe Massa hat Glück gehabt. Sofern man von Glück reden kann, wenn man in eine Situation gerät, die nach menschlichem Ermessen eigentlich nicht eintreten kann. Und damit ist gleich mal ein lobendes Wort über die vielgescholtene FIA fällig. Denn in ihrem ureigensten Betätigungsfeld - der Verkehrssicherheit - wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich Großes geleistet. Formel 1-Helme halten heute einer Gewehrkugel locker stand. Und Frontalcrashes in einen Reifenstapel enden nur alle 10 Jahre Mal mit böseren Verletzungen.

Der letzte solche Unfälle mit Folgen war jener von Luciano Burti in Spa. Er war bei fast 300 km/h mit Eddie Irvine kollidiert, der ihn in die Bande schickte. Burti kam nie wieder zurück in die Formel 1. Noch vor 20 Jahren wäre Felipe Massa tot gewesen. Vielleicht sogar zwei Mal. Denn die Feder wäre ziemlich sicher durch seinen Helm durchgegangen. Und am Ende hätte ihm der Einschlag mit fast 200 km/h nicht gut getan.

Der Tod klopfte an

Wenn die Teile fliegen, sind die Zuschauer interessiert., Foto: Sutton
Wenn die Teile fliegen, sind die Zuschauer interessiert., Foto: Sutton

Der Tod hat in den letzten Wochen mehrfach angeklopft. Der arme Henry Surtees hatte in der Formel 2 nicht das Glück von Massa. Er wurde Opfer des letzten unkalkulierbaren Risikos in allen Sicherheitsüberlegungen: herumfliegende Teile, die den Kopf treffen. Fast hat man schon vergessen, dass dadurch auch zwei Streckenposten getötet wurden: in Melbourne bei einem Abflug von Jacques Villeneuve und in Monza bei einer Massenkollision in der zweiten Schikane.

Selbst wenn der Schädel und das Gehirn bei so einem Aufprall unversehrt bleiben, liegt das Risiko in der größten Schwachstelle des menschlichen Organismus: dieser fast lächerlich dünnen Halswirbelsäule, die bei einem Kapital-Aufprall kein HANS-System der Welt schützen kann. Und selbst wenn sie hält, besteht das große Risiko, dass durch die explosionsartige Verformung des Nackens die Hauptschlagader reißt. Der Fahrer verblutet innerlich, noch bevor das Auto zum Stillstand gekommen ist. So wie Formel-1-Hoffnung Gonzalo Rodriguez aus Uruguay vor 10 Jahren, als er in Laguna Seca beim Indycar-Rennen abflog und sich in einen Erdwall bohrte. Dr. Stephen Olvey, damals das Pendant zu Sid Watkins in den USA, fand den armen Burschen scheinbar völlig unversehrt vor, ohne einen Kratzer, aber eben ohne Blut in seinen Adern.

Motorsport-Voyeurismus

Kein normaler Mensch will einen Fahrer im Cockpit sterben sehen. Trotzdem sind lebensgefährliche Unfälle immer gut fürs Geschäft gewesen. Unfälle machen Quote und Auflage. Und alle, mit Ausnahme des Betroffenen verdienen ganz gut daran, wenn die Ersthelfer mal wieder die weißen Leintücher auspacken, um nicht die volle Wahrheit herzuzeigen. Voyeurismus ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wie sonst wäre es zu erklären, dass es bei einem Unfall auf der Autobahn auch immer gleich auf der Gegenseite Stau gibt. Das Nicht-Hinschauen ist offensichtlich nicht auf unserer Festplatte gespeichert.

Die TV-Quoten sind 1994 nach dem Senna- und Ratzenberger-Tod explodiert. Und das lag sicher nicht nur an dem neuen Star Michael Schumacher. Plötzlich war dieses Kribbeln wieder da. Und das Interessante daran war: Plötzlich war die Formel 1 auch für "artfremde" Medien wieder interessant. Lifestyle-, Business- oder Jugendmagazine sprangen auf den Zug auf und schickten Heerscharen von Reportern aus.

Die andere Seite des Mr. E

Um Missverständnissen vorzubeugen: Bernie Ecclestone und sein Rechtevermarkter F.O.M. versuchen diesem Voyeurismus seit langer Zeit gegenzusteuern. Bernie ist keineswegs das geldgeile Monster hinter den verspiegelten Fenstern seines Busses, der schon die Dollars zählt, wenn einer abfliegt. Für die TV-Regisseure gibt es einen klaren Marschbefehl: keine Nahaufnahmen, bis der Daumen nach oben geht. Und wer sich schon öfter gewundert hat, warum Jahresrückblicke manchmal so langweilig sind: Ecclestone verbietet es TV-Stationen vertraglich, schwere Crashes in ihren Formel-1-Rückblick hinein zu schneiden. Das ist die unbekannte Seite des Formel-1-Chefs.

Felipe Massas Unfall und Verletzung machte die Formel 1 für viele wieder interessant., Foto: Sutton
Felipe Massas Unfall und Verletzung machte die Formel 1 für viele wieder interessant., Foto: Sutton

Als Nina Rindt, die Witwe des verunglückten Weltmeisters von 1970 vor einigen Jahren der Formel 1 einen ihrer seltenen Besuche abstattete, ging sie die Startaufstellung auf und ab wie einst. Nach ein paar Minuten hatte sie genug gesehen und murmelte: "Das sind ja lauter Kinder heutzutage!" Warum ich diese Anekdote erzähle? Sie spiegelt den Umgang mit dem Tod in den letzten 40 Jahren wieder. Auch die Rindts, Andrettis, Fittipaldis, Stewarts oder Regazzonis von damals waren Mitte 20. Trotzdem haben wir sie als draufgängerische Teufelskerle in Erinnerung.

Sichere F1-Go-Karts

Sie alle mussten sich damals die Frage stellen: Will ich diesen Sport ausüben? Oder will ich lieber sicher überleben? Denn der Tod war noch in den Achtzigerjahren viel näher als heute. Die von Nina Rindt verwundert beobachtete Generation der Heidfelds, Trullis oder Fisichellas musste sich diese Frage nicht mehr ernsthaft stellen. Ihre Gokarts wurden von Jahr zu Jahr schneller bis sie irgendwann mal Formel-1-Auto hießen. Und am Ende war es doch immer nur wie ein tolles Videogame. Neustart jederzeit möglich. Bis auf Rubens Barrichello (und nun natürlich auch wieder Michael Schumacher) hat kein Fahrer mehr einem Kollegen nach einem Unfall ins Grab nachschauen müssen. Jaime Alguersuari war gerade vier Jahre alt, als in Imola 1994 "die Sonne vom Himmel fiel".

Die letzten Wochen waren ein Alarmzeichen. Denn 100% Sicherheit wird es in der Formel 1 nie geben können. Das beunruhigende daran ist: das muss noch nicht alles gewesen sein. In der Vergangenheit traten die Unglücke öfters gehäuft auf. Karl Wendlinger hatte den Unfall, der seine Grand-Prix-Karriere letztendlich beendete unmittelbar nach dem Imola-Wochenende. Und alle dachten, drei Mal schlägt der Blitz sicher nicht an der gleichen Stelle ein. Wollen wir hoffen, dass auf Helme, Overalls, Reifenbanden und Überlebenszellen weiterhin Verlass ist. Ich persönlich habe keine Lust, Nachrufe zu schreiben. Und lesen will sie hoffentlich auch keiner. Und für die Quote und die Auflagen der Sonntagszeitungen reicht allemal, was bis jetzt passiert ist.