Am Sonntag, den 22. Oktober 2006 war alles vorbei. Um 20:35 Uhr mitteleuropäischer Zeit endete die Formel-1-Karriere von Michael Schumacher mit einem 4. Platz beim Großen Preis von Brasilien in Sao Paulo. "Ich bin sicherlich glücklich, ich wäre natürlich lieber auf dem Podium gestanden, aber das war heute nicht möglich", sagte er damals. "Alles in allem muss man auch mit diesem Rennen zufrieden sein. Jetzt schauen wir in die Zukunft, egal was sie bringen wird." Keine drei Jahre danach bringt die Zukunft das Comeback: Schumacher steigt für den verletzten Felipe Massa wieder ins Cockpit, und zwar schon beim nächsten Rennen nach der Sommerpause in Valencia.

Eine Karriere im Schnelldurchgang

16 Jahre sind eine lange Zeit, selbst in der schnelllebigen Welt der Formel 1. Trotzdem brauchte es nur eine Saison, seine letzte, um beinahe alles noch einmal mitzuerleben, was Michael Schumacher in den vorangegangen anderthalb Jahrzehnten vollbrachte und womit er den Motorsport unwiderruflich veränderte.

In diesen 16 Saisons haben seine Fans viel erlebt. Jeden zweiten und manchmal, wenn Bernies Terminkalender es so wollte, sogar jeden Sonntag begleiteten sie ihren Star vor dem Fernseher. Sie haben mit ihm gefiebert, gejubelt und getrauert. Dazwischen verfolgten sie jede Testfahrt und jeden PR-Auftritt unter ihren roten Schumi-Kappen. All das gab es 2006 zum letzten Mal.

Die Abschieds-Tournee des Michael Schumacher war wie eine Wiederholung im Schnelldurchlauf, wie ein Spiegelbild seiner gesamten Karriere voller Höhen und Tiefen, genauso verlief auch seine letzte Saison in der Königsklasse, wenn auch am Ende ein leicht verzerrter Spiegel benutzt wurde, um alle Ereignisse auf dieses eine Jahr zu komprimieren. Ein Spiegel mit einem winzigen Riss am Ende eines prachtvollen und einzigartigen Werkes.

Die Durststrecke

Michael Schumacher ist zurück., Foto: Ferrari Press Office
Michael Schumacher ist zurück., Foto: Ferrari Press Office

Wie seine Ferrari-Laufbahn begann auch die Saison 2006 mit einer Durststrecke. Erst im vierten Saisonrennen stand Schumacher zum ersten Mal ganz oben auf dem Siegerpodest, ausgerechnet beim Ferrari-Heimspiel in Imola. Bis dahin erlebte er einen ordentlichen Start als Zweiter in Bahrain, einen Motorwechsel in Malaysia und zum Abschluss der Übersee-GP einen Einschlag in die Mauer in Australien. Ross Brawn nannte dies "keinen starken Start", was sehr an die lange rote Durststrecke von 1996 bis zum ersten Titelgewinn im Jahr 2000 erinnerte. Pleiten, Pech und Ausfälle prägten das Bild. Es schien fast so, als ob die Katastrophensaison 2005 doch noch nicht ganz überwunden sei.

In Imola und am Nürburgring folgte dann ein Doppelschlag, zwei Siege vor heimischer Kulisse. Aber auch das schien nur ein Zwischenhoch wie die erfolglosen Titelkämpfe der Jahre 1997 und 1998 zu sein. Danach setzte der ausgemachte WM-Favorit Fernando Alonso zu einer Siegesserie an, während welcher Schumacher nur als Zweiter hinterher fahren konnte.

Die Erfolgsserie

Michael Schumacher ersetzt Felipe Massa bei Ferrari., Foto: Ferrari Press Office
Michael Schumacher ersetzt Felipe Massa bei Ferrari., Foto: Ferrari Press Office

Michael Schumachers Karriere war aber nicht nur von der langen Titeldürre bis Suzuka 2000 geprägt, als er nach 21 Jahren wieder den Titel nach Maranello holte. Darauf folgte bis 2004 eine noch nie da gewesene Dominanz - fast schon so wie in der zweiten Saisonhälfte der Saison 2006. Zwischen 2000 und 2004 krönte sich Schumacher fünf Mal zum Weltmeister, brach beinahe alle Rekorde und trug sich auf fast allen Seiten der F1-Geschichtsbücher ein. Die meisten Siege, die meisten Poles, die meisten Titel; fast alle Statistiken, die ein gewiefter Mathematikguru aushecken kann, beginnen mit der Zeile: 1. Michael Schumacher.

In der zweiten Halbzeit, um in der Sprache seines Lieblingssports zu bleiben, wurde Schumacher diesen Ansprüchen gerecht. Mit sieben Siegen ist er der erfolgreichste Fahrer des Jahres 2006. Einige der Rennen seiner WM-Aufholjagd erinnerten sogar ein wenig an die rote Dominanz von 2002 oder 2004. Andere wiederum riefen mit ihren direkten Duellen mit Fernando Alonso Erinnerungen an die großen WM-Kämpfe gegen Damon Hill, Jacques Villeneuve und Mika Häkkinen wach.

Die Kontroversen

Der Helm wird wieder vom Nagel genommen., Foto: Sutton
Der Helm wird wieder vom Nagel genommen., Foto: Sutton

Die Ära Schumacher bestand aber nicht nur aus Siegen, Rekorden und sportlichen Ausnahmeleistungen. Die Karriere des erfolgreichsten F1-Fahrers aller Zeiten war auf der Ideallinie immer wieder von Strafen, Fehlern, Vorwürfen und Diskussionen gepflastert. Die Saison 2006 sollte da keine Ausnahme sein. Auch sie wurde von zwei strittigen Momenten des Wahnsinns geprägt, zu denen sich das Genie am Lenkrad hinreißen ließ.

Monaco - mit fünf Siegen ist seine ehemalige Wahlheimat eine seiner Paradestrecken. Nur der König von Monaco, Ayrton Senna, gewann dort öfter. 2006 verfiel Schumacher dort in längst vergangen geglaubte Zeiten. Qualifying, die Uhr tickte gnadenlos herunter, er war auf seiner letzten Runde nicht mehr auf Bestzeitkurs, dafür aber seine Konkurrenten. Dann kam die Rascasse. Schumacher fährt die Kurve falsch an, verbremst sich, lenkt in diverse Richtungen und parkt. Da waren sie wieder: Die Erinnerungen an die schwarzen Momente von Adelaide und Jerez, die Kollisionen in den WM-Finals mit Hill und Villeneuve.

Zum letzten Mal Rotkäppchen bei der Sieger-PK. Vielleicht auch nicht., Foto: Sutton
Zum letzten Mal Rotkäppchen bei der Sieger-PK. Vielleicht auch nicht., Foto: Sutton

Schumacher zeigte sich genauso uneinsichtig wie damals: "Schaut Euch die Bilder an, dann versteht Ihr es." Genau das machten seine Kritiker und verteufelten ihn dafür. Strittige Situationen auf der Strecke machten in seiner Laufbahn aber nur die Hälfte der Kontroversen aus. Es gab auch noch jene Momente, in denen die Entscheidungen des Motorsportweltverbandes FIA die Verschwörungstheoretiker des Fahrerlagers auf den Plan riefen. Ignorierte schwarze Flaggen, missglückte Zielfotos, österreichische Funksprüche, illegale Spritmischungen, Software-Codes und Traktionskontrollen standen in den vergangenen 16 Saisons ebenso auf der FIA-Tagesordnung wie verbotene Wunderbremsen und abgefallene Siegel. In dieser illustren Gesellschaft reihen sich die mittlerweile legendären Masse-Dämpfer und die Ungarn-Bestrafung von Fernando Alonso perfekt ein.

Der Defekt

Alles begann mit einem Ausfall - so seltsam es sich anhören mag, aber die Karriere von Michael Schumacher begann 1991 in Spa-Francorchamps mit einem Getriebedefekt nach wenigen hundert Metern. In Suzuka und Sao Paulo endete seine Karriere genauso: mit einem Motorschaden in seinem vorletzten Grand Prix, einem Benzindruckproblem in seinem letzten Qualifying und einem Reifenschaden in seinem letzten Rennen. Und das in dem Moment, als seine Hoffnungen auf den perfekten Abschied, die ersehnte Krönung einer außergewöhnlichen Karriere, den 8. Weltmeistertitel größer denn je waren.

Die Legende kommt zurück., Foto: Sutton
Die Legende kommt zurück., Foto: Sutton

Ausgerechnet der Perfektionist Schumacher, dessen Auto seit Jahren wie ein Uhrwerk lief, bei dem es höchstens am Auto des Teamkollegen ein Problem gab, der zusammen mit seinem Team eine neue Ära der Qualitätskontrolle und Zuverlässigkeit eingeläutet hatte, erlebte in seinem vorletzten Rennen den erst 50. Ausfall, den ersten Ausfall wegen eines Motorschadens seit über sechs Jahren.

Der Wandel

16 Jahre sind eine lange Zeit. In 16 Jahren Formel 1 ist viel passiert, hat Michael Schumacher viel erlebt. Momente die ihn verändert, geprägt haben. Seit seinem F1-Einstieg 1991 bei Jordan hat er nie aufgegeben - selbst in den auswegslosesten Situationen hat er immer an sich und den Erfolg geglaubt; manchmal versuchte er auch ihn mit aller Gewalt zu erzwingen. Er war der große rote Motivator, der Mann mit dem größten Kampfgeist, dem meisten Einsatz und dem unbändigen Willen, unbedingt und um jeden Preis zu gewinnen.

Als der siebenfache Weltmeister rund eine Viertelstunde nach seinem Ausfall im vorletzten Rennen seiner Karriere an die Ferrari-Box zurückkam, spielten sich in Suzuka, dem Ort so vieler Schumacher-Triumphe und Titelfeten, Szenen ab, die schon zu diesem Zeitpunkt an Abschied und Resignation erinnerten: Schumacher bedankte sich bei seinen Mechanikern, baute sie auf und ging danach an den Kommandostand, um seine Ingenieure und Teamchefs ein vorletztes Mal abzuklatschen. Das Unerwartete, das schier Unmögliche war eingetreten: Schumacher hatte aufgegeben. Mit 10 Punkten Rückstand auf Fernando Alonso sah er vor dem letzten Rennen nicht mehr durch die verbissene "um jeden Preis"-Brille, er blieb Realist und schrieb den Traum vom 8. Titel ab. Durch einen Ausfall seines Gegners wollte er nicht Weltmeister werden.

Der letzte Sprung auf dem Siegerpodest?, Foto: Sutton
Der letzte Sprung auf dem Siegerpodest?, Foto: Sutton

Wurde Schumacher nach der Parkplatzsuche von Monaco noch immer als unberechenbar, unsportlich und unfair bezeichnet, zeigte er in einem der am meisten frustrierenden Momente seiner Karriere wahre Größe. Der Ausfall schien den gesamten Druck von ihm genommen zu haben. Bei seinem letzten PR-Auftritt in Brasilien gestand er sogar erstmals einen Fehler im WM-Finale von 1994. "Es gibt sicher Situationen im Leben, die man, wenn man sie wiederholen könnte, vielleicht anders machen würde", sagte Schumacher, der in seinen 16 Formel 1-Jahren so einige Probleme damit hatte, Fehler einzugestehen. Die letzten Beispiele dafür gab es in Monaco und Ungarn zu bestaunen.

Die Saison 2006 war für Michael Schumacher ein Schnelldurchlauf durch sein gesamtes F1-Leben, mit einigen großen Gesten am Ende. Dennoch gibt es sie, die Unterschiede und Auslassungen zwischen dem Jahr 2006 und den Jahren 1991 bis 2005. Schumacher, der sich ehrlich als Fan und Freund von Felipe Massa outete, bekam während der gesamten Saison keine angeordnete Hilfe seines Teamkollegen. Im Gegenteil: In Istanbul verzichtete Ferrari sogar auf eine Teamorder und zerstörte nicht Massas Rennen, um Schumacher in der Safety-Car-Phase vor ihm an die Box zu holen. Auch auf schwere Unfälle und Verletzungen verzichtete das Schicksal in seiner letzten Saison - beides waren bei ihm aber eh die Ausnahme.

Insgesamt überwiegen aber die Gemeinsamkeiten und Parallelen, die Höhen und Tiefen, nur eins fehlte 2006, was Michael Schumacher in seiner langen Karriere oft hatte: der Titel. Obwohl die Ära Schumacher wegen des Qualifying-Problems vom Samstag und des Reifenschadens im Rennen nicht standesgemäß mit einem Sieg endete, versank beim tränenreichen Abschied des großen M und S selbst der jüngste Doppel-Weltmeister der F1-Geschichte im Schatten der Bedeutungslosigkeit.

Am Ende zählte eben nicht das Drama um den tragischen Abschied, sondern einzig und allein die Würdigung einer einzigartigen Karriere, die erbitterte Aufholjagd in seinen letzten 60 Formel 1-Runden - das war der bekannte Michael Schumacher, der niemals aufgab, auch nicht, wenn er nach 11 Runden schon kurz vor einer Überrundung stand. Die Risse von Suzuka und Sao Paulo verschwimmen angesichts der Erinnerungen an solche Glanzleistungen, sieben Weltmeistertitel, achtundsechzig Pole Positions und einundneunzig Siege. Bei seinem Comeback als Superersatzmann könnten noch ein paar dazu kommen.