Wer heute ein Formel 1-Cockpit bekommt, der wird quasi in den Adelsstand erhoben. Die Kehrseite der Medaille ist, dass man sein bisheriges Leben an der Garderobe abgeben muss und in eine völlig neue Identität schlüpft. Millionen Menschen weltweit sehen sich von da an berufen, dem Formel 1-Piloten die Daumen zu drücken, ihm Gutes oder Schlechtes zu wünschen, oder ihm wohlgemeinte Ratschläge zu erteilen. Letzteres scheint ein besonders großes Hobby von Boulevard-Schreiberlingen geworden zu sein. Im Falle von Lewis Hamilton drohte das Yellow Press-Ungeheuer den britischen Superstar zuletzt so schnell wieder zu vernichten, wie man ihn hochgejubelt hatte. Das Boris Becker-Syndrom sozusagen, nur halt im Zeitraffer.

Die Fans haben endlich wieder einen Heimsieger., Foto: Sutton
Die Fans haben endlich wieder einen Heimsieger., Foto: Sutton

Das Verhältnis von Hamilton zur Presse hat sich in den 1 ½ Jahren seines Wirkens in der Tat gewandelt. Noch im Vorjahr hätte er in einer Umfrage im Fahrerlager wohl 90% Zustimmung als Mediendarling Nummer 1 erhalten. Selbst altgediente Kollegen standen in Melbourne im Vorjahr fassungslos herum, wie nett, verbindlich und höflich der Neue doch war. Im August in Ungarn (zur Erinnerung - Blockade von Alonso im Qualifying usw.) hatte sich das Bild schon ein wenig gewandelt. Und als nach dem Auftaktsieg in Melbourne 2008 nicht gleich eine Lawine an Siegen nachfolgte, da war nix mehr mit Darling. Wie die Ratten kamen sie aus den Löchern.

Plötzlich fühlten sich viele "Experten" genötigt, Herrn Hamilton gute Ratschläge zu erteilen: In der Boxengasse bremsen kann er nicht, der Depp. Und wie kann er die eine angebliche Freundin sitzen lassen, um angeblich zu einer anderen zu wechseln? Wo er doch die Schwester von Eddie Irvine schon vernascht haben soll (die Lachnummer schlechthin im Paddock). Und überhaupt, wer dauernd solche Termine bei Charity-Triathlons und den Nelson Mandelas dieser Erde hat, der hat sie wohl nicht mehr alle. Kein Wunder, dass sogar der alte Hamilton einen Sportwagen ins Gemüse fährt. Der hat sie ja auch nicht mehr alle. Und der Lewis war sicher auch da mit dran schuld.

Ein Küsschen für den Pokal., Foto: Sutton
Ein Küsschen für den Pokal., Foto: Sutton

Dahinter steckt ein einfacher Mechanismus, der das Boulevard-Vehikel seit Jahrzehnten am Laufen hält: Helden kann man gut verkaufen. Aber noch besser sind gefallene Helden. Eine gute Schlagzeile liest man ab und zu gerne. Aber von schlechten Schlagzeilen kann man nie genug bekommen. Und die Methoden werden immer ungenierter. Umso beachtlicher finde ich es, wie es ein Michael Schumacher gelungen ist, über gute 15 Jahre da ungeschoren davon zu kommen. Zumindest in Deutschland. In England hat man ja 1994 nach dem Rammstoß für Damon Hill alle Leinen losgelassen und das Bild vom bösen Deutschen nur noch halbherzig korrigiert.

Lewis Hamilton ist der Presse jedenfalls in die Falle gegangen, die er gar nicht umgehen konnte. Und deswegen war sein Sieg in Silverstone so unglaublich wichtig. Auch um wieder Ruhe in sein Umfeld zu bekommen. Denn auch wenn ihm die Heckenschützen mit ihren Laptops egal sein könnten, weil er sie nie leibhaftig zu Gesicht bekommt: Die Welle des Unsinns, der da verzapft wird, schwappt so oder so ins Fahrerlager hinein. Das sind die Regeln der modernen Formel 1-Kommunikation.

Für Lewis ist in den vergangenen Monaten alles sehr schnell gegangen. Aus dem Nichts kommend war er in wenigen Wochen der Erlöser Englands, der WM-Topfavorit, der Überirdische, dann der Märtyrer im Alonso-McLaren-Krieg und am Ende der Depp im WM-Finish. Für einen 22-jährigen Stoff genug, um irgendwann mal auszuticken. Zugegeben: Lewis hat sich unter all dem Druck ein wenig zurück gezogen. Zuletzt machte er einen Kardinalfehler, der schon anderen Fahrern medialen Schlechtwetter eingehandelt hat: Er ließ die wartenden Journalisten ewig vor dem Motorhome stehen, um am Ende gar nicht zum Interview zu kommen. Das ist unhöflich. Und Journalisten sind von Natur aus eher eitel und dadurch zu Recht sauer. In diesen Dingen färbt dann leider auch die Dennis'sche McLaren-Noblesse unschuldigerweise ein wenig auf Lewis ab. ("We make history, you write about it...").

Lewis ist wieder Everybodys Darling., Foto: Sutton
Lewis ist wieder Everybodys Darling., Foto: Sutton

Ich bin weder der Anwalt von Hamilton noch der Ankläger der Boulevard-Presse. Ich möchte aber meine persönliche Sicht der Dinge festhalten: Lewis ist jetzt 23. Im Vergleich zu anderen wesentlich älteren Fahrerkollegen hat er mächtig was im Kopf, ordentliche Manieren und schon ein bisschen was erreicht. Er hat sein Leben ordnungsgemäß am Eingang abgegeben und erfüllt seine Rolle als Vorzeigesportler perfekt. Im Vergleich mit anderen 23-jährigen, die ich so privat kenne, sowieso...

Nach seinem Besuch bei Nelson Mandela musste jedem klar sein, wie sehr Hamilton doch am Boden geblieben ist. Schwer beeindruckt zeigte er sich von der Ausstrahlung des alten Mannes: "Ich habe seine Biografie vor Jahren gelesen. Ich bin kein großartiger Bücherwurm. Aber dieses Buch musste ich lesen. Als ich dann zu ihm kam, war es für mich wie ein Empfang beim König. Ich wollte mir ursprünglich Fragen aufschreiben, die ich ihm stellen wollte. Aber dann dachte ich mir: Es fragen ihn ohnehin pausenlos alle Menschen etwas. Da will ich ihm nicht auch noch auf die Nerven gehen. Aber er war so unglaublich nett. Beim Dinner durfte ich dann an seinem Tisch sitzen. Gegenüber saßen Bill Clinton, Chelsea Clinton, Oprah Winfrey, Will Smith und einige englische Adelige. Und ich dachte mir nur: Verdammt, was tue ich hier eigentlich? Fällt denen gar nicht auf, dass ich nur ein ganz normaler Junge von der Straße bin..." So redet keiner, dem der Ruhm zu Kopf gestiegen ist.

Hamilton braucht daher keine guten Ratschläge. Er braucht nur die gleiche Fairness, die für alle anderen auch gilt. Und wir alle können ein Zeichen setzen, in dem wir nicht jeden Blödsinn nachplappern, den irgendein bösartiger Gerüchte-Schmied sich gerade zusammengezimmert hat. Und ab und zu auch das ganze Bild betrachten, ehe wir marktschreierisch etwas hinausposaunen. Denn manchmal ist die gute Schlagzeile zwar weniger kraftvoll, aber zumindest richtig. So glaube ich übrigens auch nicht, dass Lewis nach seinem Silverstone-Sieg schon der beste Regenfahrer aller Zeiten ist, wie man ja schon lesen und hören musste. Die Formel 1 ist bald 60 Jahre alt. Sie hat viele große Fahrer gesehen. Lewis in Silverstone war das Beste seit Jahren. Aber Senna in Donington oder Adelaide, Frentzen 1999 in Magny-Cours, Schumacher in Spa oder Suzuka - das war dieselbe Liga. Daher schadet auch bei Superlativen ein wenig Demut vor der Geschichte nicht.