Es ging ganz schnell. Der Regen wurde von allen erwartet, aber nicht in dieser Intensität. Er brach über den Nürburgring herein und alle Hilfe in Form von extremen Regenreifen kam zu spät. Binnen Sekunden mutierte die Auslaufzone der ersten Kurve vom Kiesbett zum F1-Parkplatz. Button, Sutil, Speed, Hamilton, Liuzzi - alle flogen sie an der gleichen Stelle ab. Kein Wunder, dass Adrian Sutil alle Rennstrecken außer Spa-Francorchamps nach den Tests als "Verkehrsübungsplatz" bezeichnete.

Marc Surer fühlte sich an Brasilien 2003 erinnert. Das letzte Superchaosrenen. "Da ging es auch drunter und drüber", erinnert er sich. Giancarlo Fisichella wurde damals erst eine Woche nach dem Rennen zum Sieger erklärt. "Das zeigt wieder einmal", sagt Surer, "wenn es der Wettergott will, gibt es spannende und interessante Formel 1-Rennen."

Dabei schien der Europa GP nach zwei Dritteln bereits entschieden, Felipe Massa der sichere Sieger zu sein. Nach einem chaotischen Start, setzte sich Massa im trockenen Mittelteil des Rennens immer deutlicher von Fernando Alonso ab. Bis zu sechs Sekunden Polster baute er auf seinen Verfolger auf. Nachdem Massas Teamkollege Kimi Räikkönen mit einem technischen Defekt ausfiel, schien der Brasilianer niemandem mehr fürchten zu müssen.

Dann schlug der Wettergott ein zweites Mal zu. "Ich fuhr ein starkes Rennen bis zum zweiten Regenschauer", analysierte Massa. "Sobald ich die Regenreifen aufgezogen hatte, fühlte ich Vibrationen und das Auto war aus der Balance geworfen." Binnen weniger Kurven schloss Alonso zu Massa auf, den ersten Angriff des Weltmeisters konnte Massa noch parieren, beim zweiten war er machtlos, musste den Silberpfeil ziehen lassen und sich über einen verlorenen Sieg ärgern. "Dieser zweite Platz hinterlässt einen bitteren Beigeschmack", gestand Massa ähnlich enttäuscht wie sein Teamkollege. "Ich bin sehr enttäuscht", klagte Räikkönen. "Ich war in einer guten Position hinter Felipe und Alonso, das Auto war sehr schnell und ich war davon überzeugt, dass ich gewinnen konnte." Seine Hydraulik hatte etwas dagegen.

Massa konnte Alonso nicht halten - mit keinen Mitteln., Foto: Sutton
Massa konnte Alonso nicht halten - mit keinen Mitteln., Foto: Sutton

Fernando Alonso kam das gelegen. "Im Trockenen war Ferrari ein bisschen schneller als wir", gesteht er, "aber im letzten Abschnitt waren wir im Regen schneller." Ron Dennis begründete das nicht nur mit den Vibrationen an Massas Auto, sondern auch mit einem beim Boxenstopp veränderten Frontflügelsetup. Nachdem die erste Aufregung verflogen war, bezeichnete er die beiden Berührungen mit Massa als normale Rennzweikämpfe. "Insgesamt ein gutes Wochenende." Eines, das ihn in der Fahrerwertung bis auf zwei Punkte an seinen Teamkollegen Lewis Hamilton heranbringt. "Bei halbnassen Bedingungen hat man dann gesehen: Wer mehr riskiert, der gewinnt", sagt Marc Surer. "Da hat Alonso bewiesen, dass er nicht durch Zufall zweifacher Weltmeister ist."

Die sechs Fragezeichen

Was war los mit Lewis Hamilton?
Schon am Samstag erlebte er die Schrecksekunde des Tages: Fünf Minuten sind noch zu fahren, Hamilton jagt die Pole Position, plötzlich Rauch aus seinem rechten Vorderrad, Teile fliegen, der Reifen platzt, Hamilton schießt ausgerechnet im noch nicht umgetauften Michael-Schumacher-S geradeaus in die Reifenstapel. Bange Sekunden des Wartens vergehen, bevor er sich selbst langsam aus dem Cockpit befreit. Nach einem Check im Medical Centre der Strecke und einer Untersuchung im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz kommt die Entwarnung - Hamilton ist unverletzt; am Sonntagmorgen geben ihm die Ärzte grünes Licht für sein zehntes Formel 1-Rennen.

Das Rennen sollte nicht minder dramatisch verlaufen. Hamilton macht am Start drei Plätze gut, liegt nach der ersten Kurve hinter den BMW Sauber von Nick Heidfeld und Robert Kubica. Dann der nächste Rückschlag: Heidfeld kollidiert mit Kubica, der sich daraufhin dreht und Hamiltons Silberpfeil trifft. Im Regenchaos fliegt er in der ersten Kurve ins Kiesbett. "Es war eine unglückliche Situation und enorm rutschig", begründet er den Abflug. Doch Hamilton hat Glück: die Streckenposten heben ihn aus dem Kies, er kann weiterfahren - das erlaubt das Reglement seit einigen Jahren. Der Kampfgeist wird jedoch nicht belohnt. Als er zu früh auf Trockenreifen wechselt, fliegt er einige Male von der Strecke. Am Ende verpasst er als undankbarer Neunter den verdienten WM-Punkt denkbar knapp. Dennoch reist er nicht mit leeren Händen aus der Eifel ab. "Ich habe das Fahren genossen, so hart gepusht wie es ging und wertvolle Erfahrungen gesammelt." Denn bislang musste Hamilton in seinen ersten neun F1-Grand Prix nie durch die harte Schule des Mittelfelds gehen.

Erst im Kies, dann am Haken und danach wieder im Rennen., Foto: Sutton
Erst im Kies, dann am Haken und danach wieder im Rennen., Foto: Sutton

Wie kam Winkelhock in Führung?
"Ich habe meinen Heim-GP angeführt - das kann mir niemand mehr nehmen", strahlte Markus Winkelhock trotz seines Ausfalls wegen eines technischen Defekts. Das goldene Händchen bewies sein Team noch während der Einführungsrunde. "Das Team hat mich direkt an die Box geholt", verriet er. "Wir sind das Risiko eingegangen und es hat sich bezahlt gemacht. Es war eine fantastische Entscheidung." Adrian Sutil sah das wohl nicht ganz so, er hätte auch gerne auf Regenreifen gewechselt, doch weil das Team das Risiko teilen wollte, musste er auf Trockenreifen draußen bleiben. Den Re-Start erlebte er dann nicht mehr auf der Strecke. So musste er von draußen ansehen, wie Winkelhock seine Führung schnell abgeben musste. Das hatte aber auch einen Grund: "Ich hatte die extremen Regenreifen drauf, die anderen alle Intermediates", so Winkelhock. "Meine Reifen waren einfach zu weich, nach ein paar Kurven hatte ich schon keinen Grip mehr, weil die Strecke schon relativ trocken war. Deshalb habe ich zu viel Zeit verloren, ich kam aus den Ecken gar nicht heraus."

Was war zwischen den BMW Sauber-Piloten?
"Heute hat die Boxencrew bessere Arbeit geleistet als die Fahrer", sagte Mario Theissen trocken. "Eine Kollision unter den Teamkollegen ist das letzte, was man sich wünscht", betonte er. Seinem Team ist dieser Unglücksfall schon in der zweiten Kurve passiert. "Ich hatte den schlechteren Start, hatte in der ersten Kurve eine gute Linie außen herum erwischt, wäre vorbei gewesen, aber Robert hat mich nach draußen in den Dreck geschickt und mir dann auch in Kurve 2 keinen Platz gelassen", erzählte Heidfeld, dessen Spurstange dabei brach. Ohne die Rennunterbrechung hätte er nicht weiterfahren können. Kubica selbst wollte nicht allzu viel zu der Situation sagen. "Ich wurde hinten von Nick getroffen, drehte mich und das war es." Marc Surer unterscheidet zwei Szenen: "In der ersten Ecke ging Kubica hart mit Nick um - er hat ihm praktisch keinen Platz gelassen. In der zweiten Kurve wollte sich Nick wohl revanchieren und war seinerseits etwas zu hart - das war ungeschickt."

Heidfeld und Kubica waren weit entfernt von der McLaren-Teamtaktik., Foto: Sutton
Heidfeld und Kubica waren weit entfernt von der McLaren-Teamtaktik., Foto: Sutton

Was war beim Unfall zwischen Heidfeld und Schumacher?
Der Heidfeld-Kubica-Zwischenfall war aber nicht die einzige Kollision des Tages - auch Ralf Schumacher geriet mit dem frisch gebackenen Familienvater aneinander. "Da verstehe ich Nick absolut. Er musste es versuchen", sagt Surer. "Ralf ist schlecht aus der Schikane herausgekommen, wusste das auch, weil er Mitte der Straße gefahren ist, um sich zu verteidigen. Er hätte nur so viel Platz lassen müssen, dass Nick Raum zum Überleben hat - dann hätte Ralf die Kurve vielleicht trotzdem gewonnen. Es war ein Missverständnis." So urteilten auch die Rennstewards: es gab keine Strafe für Heidfeld. Für BMW Sauber war der Rennverlauf Strafe genug. "Wenn man sich das Ergebnis ansieht, erkennt man, was wir heute weggeschmissen haben", grummelte Heidfeld. Mario Theissen nannte das Kind beim Namen - und der lautete nicht Joda, sondern die Plätze 3 und 4.

Ralf Schumacher war dennoch sauer. "Vor dem Zwischenfall mit Nick war mir in der Kurve zuvor ein kleiner Fehler passiert, er schloss auf und wir kollidierten", beschrieb Schumacher die Situation. "Nick ist ein sehr fairer Pilot, das war eine Rennsituation, aber es ist ärgerlich, weil es unnötig war." Heidfeld schiebt die Schuld auf die abtrocknende Strecke. "Ich bin blöderweise innen auf dem Nassen ausgerutscht, da konnte ich es nicht vermeiden, dass wir uns berühren." Für Theissen war es ein normaler Rennunfall. "Die Kurve ist breit genug für zwei Autos, das haben wir oft genug gesehen."

Wieso kam Wurz beinahe noch aufs Podium?
Chaosrennen scheinen Alex Wurz zu liegen, dann kann er seine Erfahrung ausspielen. In Montreal reichte das für Platz 3, in der Eifel schrammte er haarscharf daran vorbei. "Ich konnte den Champagner fast schon schmecken", sagte er hinterher. "Man könnte meinen, dass es frustrierend ist, das Podium um 0,2 Sekunden zu verpassen, aber ich bin zufrieden." Bis zuletzt hetzte Wurz seinen Vordermann, in der letzten Kurve machte Mark Webber dann den Fehler. "Aber es war nicht genug, um einen Angriff zu starten." Webber begründete seinen Fauxpas und den geschmolzenen Vorsprung mit "extremen Vibrationen" an den Hinterreifen.

Wie hat Heikki Kovalainen Platz 5 verpokert?
Viele Piloten klagten, dass sie beim einsetzenden Regen in der ersten Runde auf die falschen Reifen wechselten. "Wir haben die falschen Reifen gewählt", gestand Nico Rosberg stellvertretend für alle Fahrer. "Es hieß erst, dass es nur wenig regnen würde, dann kam aber der ganze Regen herunter." Ralf Schumacher beschrieb die Verhältnisse einfach nur als "Katastrophe". Die meisten haben daraus gelernt, beim zweiten Regenschauer wechselten alle auf die richtigen Reifen. Alle? Heikki Kovalainen und Renault gingen das Risiko ein, wechselten schon 5 Runden vor dem Regen auf Intermediates und verloren. "That's one hell of a gamble", funkte Kovalainens Ingenieur dem Finnen ins Cockpit. Recht hatte er. Eigentlich sollte der Kniff den Finnen von Platz 5 aufs Podium befördern, stattdessen fuhr er als Achter über die Ziellinie. "Unser Job ist es nun, alles zu analysieren, unsere Fehler zu verstehen und zu versuchen, einen Schritt nach vorne zu machen", sagte Flavio Briatore nach dem Rennen. Dabei ist die Antwort so einfach: es war ein verdammt riskantes Glücksspiel.