Beim Grand Prix von Belgien 1991 tauchte zum ersten Mal ein junger Deutscher in der Formel 1 auf, der den Sport in den folgenden Jahren wie kaum ein anderer zuvor prägen sollte. Etablierte Fahrer wie der damalige McLaren-Pilot Gerhard Berger begutachteten den Neuling erst einmal mit großer Skepsis. Berger gibt im Interview mit Spiegel Online zu, dass er Schumacher nicht ausstehen konnte. Warum genau das so war, weiß der Österreicher heute allerdings auch nicht mehr.

"Das frage ich mich jetzt auch, mittlerweile mag ich ihn nämlich. Ich glaube, ich habe damals instinktiv auf ihn reagiert. Sein Gehabe war ... unangenehm," erklärt der 47-jährige. "Am liebsten hat man jemanden, der sich zuerst vorstellt, einem freundlich die Hand schüttelt und sofort zur Seite fährt, wenn er deinen Helm im Rückspiegel auftauchen sieht. Solche Fahrer kommen auch manchmal, aber nicht immer. Andere siehst du zuerst gar nicht, plötzlich fährt er vor dir her, macht sich breit und lässt dich nicht vorbei. Zu allem Überfluss ist der sauschnell. Michael hat zu diesem Typus gehört."

Ein "Gehabe", das dem seines guten Freundes und damaligen Teamkollegen Ayrton Senna gar nicht so unähnlich war, gibt Berger zu. "Michael denkt so kompromisslos an den Erfolg, dass er auf nichts Rücksicht nimmt, wenn er um den eigenen Vorteil kämpft. Bei Ayrton Senna war das früher nicht anders: Der hat vorm Rennen die Bibel gelesen und im Rennen ist er dir über den Kopf gefahren. Die Super-Erfolgreichen ticken alle so." Mittlerweile hat Berger seine Einstellung zu Schumacher jedoch grundlegend geändert und versteht sich gut mit ihm. "Erstens respektiere ich sein Können und seinen enormen Erfolg. Zweitens hat er bewiesen, dass er auch Leute führen kann," gibt Berger als Gründe für den Sinneswandel an.

Schumacher schon damals ohne Respekt vor den Alten, Foto: Sutton
Schumacher schon damals ohne Respekt vor den Alten, Foto: Sutton

"Er ist irrsinnig gereift. Obwohl er sehr viel Geld verdient hat, ist er nicht abgehoben. Ein Privatflugzeug ist für ihn ein praktisches Transportmittel, kein Schickimicki. Ihn interessieren nur zwei Sachen wirklich: Sport und Familie. Mich hat beeindruckt, dass jemand sein Bankkonto auf dieses Maß bringt und trotzdem motiviert genug bleibt, sich jeden Tag im Fitnessraum zu quälen und Jahr für Jahr Zehntausende von Testkilometern herunterzuspulen." Privat habe er festgestellt, wie vernünftig man mit Schumacher diskutieren kann. "Er denkt zuerst, bevor er redet. Und er hat eine nette Familie. Kurz gesagt: Er läuft rund."

Berger, der von 1993 bis 1995 bei Ferrari fuhr bevor Schumacher 1996 zur Scuderia stieß, weigerte sich damals sogar, mit dem deutschen Nachwuchspiloten zu sprechen. "Als ich bei Ferrari fuhr und Ende 1995 klar war, dass er zum Team stößt, sagte mir Todt: Der Michael ist nicht verkehrt. Ihr werdet euch verstehen," erinnert er sich. "Rede doch mal mit ihm. Da habe ich ihm geantwortet: Du glaubst doch nicht, dass ich mit dem Wahnsinnigen rede! Aber Todt ließ nicht locker. Wir haben uns also unterhalten und tatsächlich gut verstanden. Mittlerweile würde ich Michael zu meinen Freunden zählen." Trotzdem war er am Sonntag doch überrascht, als Schumacher in Monza seinen Rücktritt bekannt gab, obwohl er die Entscheidung verstehen kann.

"Ich bin doch etwas überrascht. Bei Schumacher schien die Besessenheit, mit der er für seine Fitness trainiert und Rennen fährt, noch so stark, dass ich nicht das Gefühl hatte, er sei schon an dem Punkt angelangt." Gerhard Berger hängte seinen Helm Ende 1997 an den Nagel und schildert, wie bei einem Fahrer der Entscheidungsprozess verläuft, mit dem Schluss zu machen, was jahrzehnte lang das Leben geprägt hat.

"Ein Fahrer steht irgendwann in der Früh auf und merkt, dass sich seine Prioritäten ändern," erklärt er. "Ein Wirrwarr von Gedanken und Gefühlen breitet sich aus: Man ist nicht mehr gerne so oft von Zuhause weg. Man fühlt sich körperlich nicht mehr so gut. Man hat all die Leute drumherum satt. Man spürt ein bisschen Angst vor Regen und schlechter Sicht im Rennauto. Oder man bangt, dass man wegen eines technischen Defekts von der Strecke fliegt. Dann wird es Zeit, sein Leben zu ändern." Es kommt der Tag, an dem ihn genau die Dinge nerven, die zuvor der Lebensinhalt waren.

"Ein Beispiel: Beim Grand Prix in Monza habe ich immer in demselben Hotel gewohnt, jedesmal im Penthouse. Als ich jung war und nachts Regentropfen auf das Dach trommelten, habe ich mich immer gefreut," erinnert er sich. "Weil ich wusste, dass ich im Regen größere Chancen habe, vorne zu landen einfach, indem ich mehr riskiere. Am Ende meiner Karriere habe bei dem Tack-tack-tack nicht mehr weiterschlafen können, weil ich überlegt habe: Verdammt, morgen regnet es, wird gefährlich!" Berger kann auch das ganze "Bohei", wie Ralf Schumacher es ausgedrückt hat, verstehen, dass Schumacher seine Entscheidung so lange hinausgezögert hat. Ein Fahrer könne einen solch gravierenden Entschluss nicht von heute auf morgen fassen.

Berger als Teamchef immer noch dabei, Foto: Sutton
Berger als Teamchef immer noch dabei, Foto: Sutton

"Bei einer so wichtigen Person beginnt die Diskussion sehr früh, und er wird gedrängt, Farbe zu bekennen. Das will man aber nicht als Rennfahrer," verteidigt Berger den Deutschen. "Du brauchst Geduld. Wenn dir dein Körper signalisiert, es wäre besser aufzuhören, dann fragst du dich: Ist das vielleicht nur vorübergehend? Diese Zeitspanne muss man durchleben, bevor man einen Entschluss trifft. Wenn man da die Öffentlichkeit und die Journalisten mit einbezieht, wird das eine Katastrophe. Dann bist du nicht mehr Herr über dein eigenes Leben." Und welche Lücke wird Schumacher in der Formel 1 hinterlassen?

"Nach kurzer Zeit wird kein Mensch mehr groß darüber reden, ob er da ist oder nicht," sagt er. "Für Sentimentalität ist die Formel 1 zu schnelllebig. Es wird sich jeder daran erinnern, dass er der bislang erfolgreichste Fahrer der Formal 1 ist. Aber es wird sich jeder auf Alonso, Räikkönen und die anderen Piloten konzentrieren." Sicher würden die TV-Einschaltquoten etwas zurückgehen, weil die Schumacher-Fans abschalten, gibt der Scuderia Toro Rosso-Chef zu. Dafür kämen aber die Alonso-Fans hinzu und das Interesse würde sich eben weiter nach Spanien verlagern. Für Ferrari würde aber wohl eine schwierige Zeit anbrechen, meint Berger.

"Wenn man sieht, welche Erfolge sie mit Schumacher hatten, dann werden sie sich sehr schwer tun, daran anzuknüpfen," vermutet er. "Wichtig ist, dass Teamchef Jean Todt bleibt. Mehr als Schumacher sorgt er dafür, dass alles zusammenläuft und das Team funktioniert. Wenn er auch gehen sollte, dann wird bei Ferrari, vorsichtig formuliert, eine Übergangsphase beginnen." Drei Rennen wird Michael Schumacher noch für Ferrari bestreiten, was den 37-jährigen dann erwarten kann, kann Berger aus eigener Erfahrung nachvollziehen.

"Ich war extrem ausgelaugt. Erst in dem Moment, in dem man aufhört, spürt man, was auf einem gelastet hat," erläutert er. "Man darf nicht unterschätzen, unter welch gigantischem Druck dieses Geschäft läuft. Druck, den man sich selber auferlegt, Druck der Fans, den Erwartungen des Teams. Am Montag bist du in den Medien entweder der große Held oder der große Idiot. Wenn du ein letztes Mal mit dem Helm unter dem Arm aus dem Fahrerlager hinausgehst, beschleicht dich ein mulmiges Gefühl. Man verlässt eine Welt, in der man groß geworden ist und die einem alles bedeutet hat. Aber ein, zwei Tage später wird es angenehm ..."

Es bestehe aber durchaus die Gefahr, dass man danach in ein Loch falle und sich eine große Leere ausbreite, gibt Gerhard Berger zu, bei Schumacher habe er allerdings keine Angst, dass es soweit kommen könne. "Wenn Michael sagt, jetzt tu' ich erstmal überhaupt nichts, macht er's genau richtig. Der kriegt das hin. Er denkt garantiert nicht, er müsse noch irgendetwas machen, damit andere sehen, was er kann."