Überholmanöver hatten in den Augen der Formel-1-Promoter in den vergangenen Jahren einen äußerst hohen Stellenwert. Möglichst viele Positionswechsel sollten es sein, um den Fans mehr Action und bessere Unterhaltung zu bieten. Die dafür getroffenen Maßnahmen trugen Früchte, denn seit der Einführung des DRS schossen die Überholmanöver durch die Decke. Mit den Boliden der Generation 2017 könnte die Königsklasse jedoch eine Rolle rückwärts machen. Vielerorts herrscht Skepsis, ob die Rennen mit dem neuen Reglement zu den oft als langweilig abgestempelten Prozessionen der Ferrari-Schumacher-Ära verkommen könnten.

"Als der Vorschlag für dieses Design rauskam, haben mir die Ingenieure gesagt, dass dies der falsche Weg ist. Die Autos werden zwar schneller und wir werden mehr Downforce haben, aber es wird schwieriger, einen Gegner zu verfolgen", so die Bedenken von Lewis Hamilton, der angesichts der komplexeren Aerodynamik eine Verschlimmerung der ohnehin schwierigen Situation prognostizierte: "Jetzt werden die Turbulenzen zweimal so heftig. Das verdoppelt das Problem, das wir vorher hatten."

Während der Mercedes-Pilot allerdings angab, bei den Testfahrten noch keinen Zweikampf simuliert zu haben, machte sich Max Verstappen schnell daran, das Verhalten seines neuen Boliden in der Dirty Air auf die Probe zu stellen. "Ich bin bei einigen Autos ziemlich nah dran gewesen und ich würde sagen, es ist das gleiche wie letztes Jahr. Du hast mehr Downforce und fährst etwas schneller durch die Kurven, aber das war es auch schon", so das Fazit des Red-Bull-Piloten.

Fazit der Formel 1-Tests in Barcelona (05:53 Min.)

Hülkenberg will durchheizen

Ähnlich wie Verstappen sah es Nico Hülkenberg. Er zählte im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com ebenfalls zu den Piloten, die sich bereits ein Feedback in Sachen Dirty Air zutrauten. "Ich bin einem Williams hinterhergefahren. Das hat mich schon überrascht, dass ich gar nicht so viel Downforce verloren habe. Ich konnte ihm ziemlich gut folgen", so der Renault-Neuzugang, der von einer Prognose für den Ernstfall jedoch absah: "Ich kann nicht sagen, ob das im Rennen auch so sein wird."

Während die Reifen in der Vergangenheit nach kurzer Zeit hinter einem anderen Auto bereits überhitzten und Zweikämpfe dadurch teilweise im Keim erstickt wurden, wünscht sich Hülkenberg für die Zukunft, dass die Duelle von längerer Dauer sein werden: "Cool wäre natürlich, wenn es möglich ist, dass du durchheizen und den Druck aufrecht erhalten kannst und früher oder später vorbeikommst."

Hamilton sieht Pirelli in der Pflicht

Reifen sind auch für Hamilton das Stichwort. Für den Briten hängt durch den Zuwachs an Downforce umso mehr von der Performance des schwarzen Goldes ab. "Hoffentlich hat Pirelli einen Reifen entwickelt, der zuverlässig und solide ist. Wir brauchen mehr mechanischen Grip von diesen breiten Reifen", so der dreimalige Weltmeister. Seine ersten Erfahrungen mit den neuen Pirelli-Pneus klangen allerdings nicht nach der großen Offenbarung: "Du kannst nicht in jeder Runde 100 % pushen. Für mich ist es dasselbe wie letztes Jahr."

Das schnelle Abbauen der Pirelli-Reifen begünstigte in der Vergangenheit die für Fahrer und Zuschauer zu einfach erscheinenden Überholmanövern und führten zu Rennen mit unzähligen Boxenstopps. Der italienische Reifenhersteller will den Anforderungen für langlebigere Reifen mit der 2017er Konstruktion aber gerecht geworden sein. "Wir sollten reifen mit weniger verschleiß bauen und das machen wir", so Mario Isola am Rande der Testfahrten.

Pirelli erklärt die neuen Formel 1-Reifen (10:18 Min.)

Pirelli auf jedes Szenario vorbereitet

Viele befürchten, dass Pirelli vom einen Extrem ins andere gerutscht sein könnte. Bei Reifen die kaum Verschleiß aufweisen, würde der Formel 1 im schlimmsten Fall tatsächlich eine Zeit der Langeweile ins Haus stehen - denn auch Positionswechsel beim Boxenstopp gehören in der Königsklasse dazu. "Ich glaube, einige Teams haben 33 Runden auf dem Soft absolviert. Vielleicht fahren wir ja in Monaco das ganze Rennen auf Ultrasoft", scherzte Haas-Pilot Romain Grosjean.

Pirelli sieht sich für das Szenario eines zu haltbaren Reifens allerdings gut gerüstet. "Das ist möglich. Aber wir haben fünf Mischungen, die homologiert sind. In machen fällen können wir also auf eine weichere Wahl gehen", so Isola. Beim Auftakt in Melbourne sowie bei den Rennen in Sochi, Monaco und Montreal werden die Piloten bereits auf den weichsten Reifenmischungen Soft, Supersoft und Ultrasoft unterwegs sein.

Sollten sich die Reifen als zu ausdauernd erweisen, müsste Pirelli sich etwas einfallen lassen. "Dann müssten wir neue Mischung entwickeln, wenn wir weicher gehen wollten", erklärte Isola. Angesichts des angesetzten Testprogrammes sollte dies jedoch im Rahmen des Möglichen sein, wie er anfügte: "Wenn wir weniger Überholmanöver oder Boxenstopps haben, sind wir hier, um uns zu verbessern. Wir haben dieses Jahr 25 Reifen-Testtage. Wenn uns etwas auffällt, werden wir für das nächste Jahr daran arbeiten. "

Der Faktor DRS

Während hinter den Reifen immer noch ein relativ großes Fragezeichen steht, könnte das bei Puristen unbeliebte DRS im Jahr 2017 eine noch größere Rolle spielen. Mercedes-Neuzugang Valtteri Bottas bemerkte bei den Testfahrten bereits einen stärkeren Effekt der Überholhilfe. "Im Windschatten hat man jetzt einen größeren Vorteil. Selbst von weit hinten kann man auf der Geraden auf den Gegner aufschließen, denn mit weniger windschlüpfrigen Autos und einem größerem Heckflügel ist der DRS-Effekt höher", so der Finne.

Das DRS ist seit seiner Einführung ein großer Streitpunkt im Fahrerlager. Im Interview mit Motorsport-Magazin.com ließ Jacques Villeneuve zuletzt kein gutes Haar an dem System. "Okay, danke und tschüss", charakterisierte er die Überholvorgänge mit Hilfe des DRS. Für die Zukunft steht das System bei den neuen F1-Bossen von Liberty Media zwar auf dem Prüfstand, doch im Jahr 2017 könnte der Effekt des DRS möglicherweise sogar das eine oder andere öde Rennen retten. An der Tatsache, dass es die Kunst des Überholens verwässert, wird das aber auch nichts ändern.

Villeneuve war 1996 Teil der Überholmanöver-ärmsten Saison der Geschichte, Foto: Sutton
Villeneuve war 1996 Teil der Überholmanöver-ärmsten Saison der Geschichte, Foto: Sutton

Verzerrtes Bild durch Überholhilfe

Drei Rennen gab es bisher in der Geschichte des Sports, in denen nicht ein Überholmanöver stattfand. Namentlich waren das der Monaco-GP 2003, das Skandalrennen von Indianapolis in der Saison 2005 und der Europa-GP auf dem Straßenkurs von Valencia im Jahr 2009. Mit dem Monaco-GP 1998, den Rennen in Ungarn und Japan 2002 sowie dem San-Marino-GP 2006 fallen vier weitere Rennen mit nur einem Überholmanöver ebenfalls in die Ära der hochentwickelten Aerodynamik und der Rillenreifen. Das beweist: Im vergangenen Jahrzehnt wurde in der Formel 1 wahrlich nicht wie am Fließband überholt.

Dabei war es keineswegs so, dass die Formel 1 vorher ein Festival der Positionswechsel war. Mit nur 186 Überholmanövern ist die Saison 1996 die statistisch schwächste in 67 Jahren Formel 1. Dem entgegen steht die DRS-Ära. Schon im ersten Jahr mit dem klappbaren Heckflügel und den Einheitsreifen von Pirelli stellte die Formel 1 ihren bisherigen Rekord auf: 1.152 Positionswechsel gab es in der Saison 2011. Den Rekord für die meisten Überholmanöver in einem Rennen stellte vergangene Saison der Große Preis von China mit 161 Überholvorgängen auf. Solche Zahlen sorgten allerdings nicht bei jedem für allzu große Begeisterung

Lieber Langeweile als DRS

"Die Überholmanöver sind nicht mehr so echt wie früher. Du musst dich nicht anstrengen oder den richtigen Moment oder die richtige Stelle abwarten. Wenn es in der einen Kurve nicht klappt, wartest du halt auf die nächste und überholst dann", kritisierte Fernando Alonso letzte Saison das inflationäre Ausmaß an Positionswechseln. Villeneuve sah sich als Zuschauer der modernen Formel 1 von der hohen Anzahl an Überholmanövern ebenfalls nicht angesprochen: "Man dachte sich: 'Okay, da ist nichts Besonderes dran. Lasst uns noch 50 Überholmanöver mehr haben. Es sind halt nur Überholmanöver.' Das funktioniert nicht."

Alonso bezeichnete sogar die Rennen der als langweilig gebrandmarkten Rillenreifen-Ära als die aufregendsten seiner Karriere: "Wir hatten diese Rennen wo es nur zwei oder drei Überholmanöver gab, und da wollten sie mehr Überholmanöver um die Show zu verbessern. Aber es waren sehr interessante Rennen. Zwar gab es nur drei oder vier Überholmanöver im ganzen Rennen, aber trotzdem war es eine der besten Shows. Ich denke nicht, dass wir so viel Fokus auf das Überholen und das Verfolgen von Autos legen sollten."