2011 wagte Pirelli erstmals seit dem Aus 1992 den Wiedereinstieg in die Königsklasse. Bis dato hatte der italienische Reifenhersteller sechsmal das Weltmeisterteam (1950 bis 1954 und 1957) mit dem schwarzen Gold bestückt. Nach einem Comeback in den 1980er und 1990er Jahren übernahm Pirelli die Alleinherrschaft von Bridgestone im Jahr 2011. Motorsport-Magazin.com wirft einen Blick auf die vergangenen sechs Jahre im Zeichen der Italiener.

Der Wiedereinstieg in die Königsklasse war kein einfacher. Während Mitbewerber Michelin klar für Markenvielfalt war und Konkurrenz begrüßt hätte, stand für Pirelli von vornherein fest, die F1 nur als alleiniger Reifenlieferant mit Pneus ausstatten zu wollen. Eine Zeit lang lagen die Franzosen gut im Rennen, standen sogar kurz vor dem Zuschlag.

Wow! Mercedes-Boxenstopp mit breiten Reifen (01:51 Min.)

Es war bereits Juni 2010 und es ist immer noch keine Entscheidung gefallen. Bernie Ecclestone wurde unruhig und die Teams scharrten mit den Hufen. Schließlich mussten die neuen Boliden designed werden - ohne Kenntnis der Reifen ein Ding der Unmöglichkeit. In der letzten Juniwoche dann die endgültige Entscheidung: Die FIA hat nach einer Tagung Pirelli den Zuschlag gegeben, als alleiniger Reifenhersteller die F1-Teams zu beliefern.

Jeder (Neu-)Anfang ist schwer

Nachdem die Reaktion auf das neue schwarze Gold während der Wintertestfahrten in Valencia weniger positiv ausgefallen sind - die Haltbarkeit der Reifen und die Konstanz in der Performance waren die gewichtigsten Kritikpunkte - war die Spannung groß, wie sich die Pirellis an den Rennwochenenden schlagen würden.

Pirelli: Debüt in Australien, Foto: Sutton
Pirelli: Debüt in Australien, Foto: Sutton

Nach dem Saisonstart in Melbourne blieb dann das erwartete Reifenchaos aus. Fast unisono tönten die Piloten: Der Abbau ist geringer als noch während der Testfahrten. Schumacher, der die Haltbarkeit der Reifen nach Valencia noch kritisierte, meinte etwa nach den Freitags-Tests: "Es war heute sehr angenehm, die Pirelli-Reifen zu fahren." Auch Teamkollege Rosberg, der im Vorfeld vor allem die harten Reifen kritisiert hatte, war positiv überrascht. "Die Reifen waren auf jeden Fall viel besser, als wir es erwartet hatten - weniger Verschleiß", so der Deutsche.

Indes strebte man bei Pirelli nach einer Änderung des Reifenreglements für die Saison 2012. Hintergrund: Nach jedem Rennwochenende wurden zu viele unbenutzte Reifen zerstört. Ein Fahrer hatte nach einem Rennwochenende mindestens einen harten Satz der harten Pneus, die unbenutzt waren. Laut Reglement mussten diese Reifen zerstört werden. Etwa 2.500 Reifen fielen dieser Praktik jährlich zum Opfer. Daher setzte sich Pirelli-Chef Hembery vehement dafür ein, die ungenutzten Reifen zum Einsatz zu bringen. "Vielleicht können wir sie am Freitag nutzen, dann hätten die Teams am Freitagmorgen einen zusätzlichen Reifensatz", lautete eine von Hemberys Ideen.

Kurzlebig, aber gut für die Show

Während die Kritik im ersten Jahr nach dem Wiedereinstieg Pirellis nicht abebbte, die Haltbarkeit der Reifen sei zu kurzlebig, trug genau jene Tatsache entscheidend dazu bei, dass die Rennen wieder spannender wurden. Auch 2012 schienen die Streitigkeiten der Teams und Fahrer auf der einen Seite und dem Reifenhersteller auf der anderen nicht aufhören zu wollen.

Michael Schumacher beschwerte sich darüber, dass man als Pilot weit unter voller Leistungsfähigkeit agieren musste, um die Reifen am Leben zu halten. "Wir fahren teilweise mit 60 bis 70 Prozent durch die Kurve, sonst fliegen die Reifen nach wenigen Runden von der Felge", so der Deutsche nach dem Bahrain GP. Und weiter: "Man sollte sich die Frage stellen, ob die Reifen eine solche Rolle spielen sollten oder ob sie es erlauben sollten, dass jeder Fahrer seine Leistung gleichmäßig abrufen kann." Laut Schumacher habe der Großteil des Fahrerfeldes mit ähnlichen Problem zu kämpfen.

Hembery zeigte sich wenig begeistert davon. "Ich bin enttäuscht von Michael, so etwas zu hören", sagte er. "Bei den Tests war er mit den Reifen happy und jetzt scheint sich seine Meinung geändert zu haben. Andere Piloten haben ihren Job hingekriegt und die Reifen zum Arbeiten gebracht." Sebastian Vettel, damals amtierender Weltmeister, sah die Problematik etwas differenzierter als Schumacher. "Die Reifen bauen schneller ab und dann fängt das Auto an zu rutschen", so der damalige Red Bull-Pilot. Allerdings begünstige eben jener Umstand Überholmanöver: "Ich bin hier in Barcelona mal 60 Runden hinter Felipe Massa hergefahren und konnte ihn nicht überholen. Heute ist das anders - irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man leichter vorbeikommt."

Die alte Leier

Strategiepoker in Australien 2013, Foto: Sutton
Strategiepoker in Australien 2013, Foto: Sutton

Mit neuen Mischungen ging Pirelli in das dritte Jahr seit dem Comeback in der Königsklasse. Auch wenn man in Italien gelernt hat, mit Kritik umzugehen, hoffte man endlich auf allgemeine Zufriedenheit. Doch es kam anders. Niki Lauda beispielsweise schoss sich auf die superweichen Reifen ein. Gegenüber der Bild-Zeitung sagte er: "Wenn die weichen Reifen so weich bleiben, ist das schlecht für die Formel 1. Die Zuschauer kommen nicht mehr mit, wenn es mehr als zwei Boxenstopps gibt. Dieser Weg ist grundsätzlich falsch. Künstlich für mehr Boxenstopps zu sorgen, ist falsch, da verlieren die Zuschauer die Übersicht."

Hembery wies die Kritik des Mercedes-Aufsichtsratsvorsitzenden vehement zurück. "Hat Niki etwa vergessen, wie langweilig die Rennen früher waren? Es ist doch immer das Geliche: Wir geben den Teams eine neue Herausforderung und wenn ihr Fahrer dann nicht gewinnt, beschweren sie sich", lautete die deutliche Antwort Richtung Lauda.

Allen voran die Silberpfeile hatten mit der Haltbarkeit der weichen Reifen zu kämpfen. Acht Pole Positions der Mercedes-Piloten Nico Rosberg und Lewis Hamilton standen gerade einmal drei Siege gegenüber. Dagegen kamen Reifenflüsterer wie Kimi Räikkönen oder Jenson Button bestens klar mit den neuen Reifenmischungen.

Der größte Skandal

Beim Großen Preis von Großbritannien kam es dann zu einem mittelschweren Skandal. Allein beim Rennen flogen den Piloten die Reifen um die Ohren. Lewis Hamilton hatte bereits in der achten Runde Pech. Sein linker Hinterreifen explodierte, wenige Runden später erwischte es Felipe Massa. Beide Piloten konnten sich jedoch noch an die Box retten. In Runde 15 der nächste Reifenplatzer: Diesmal am Toro Rosso von Jean-Eric Vergne. Den vierten Reifenschaden hatte kurz vor Rennende Sergio Perez - sein zweiter an diesem Rennwochenende.

Pirelli stand unter enormem Zugzwang und musste handeln, und das so schnell wie möglich. Doch die Mammutaufgabe, bis zum nächsten Rennen, dem Großen Preis von Deutschland, mit überarbeiteten Reifenmischungen aufzuwarten, gelang dem Reifenhersteller. Sehr zum Bedauern derjenigen, die von Schäden verschont geblieben sind und mit den Pneus gut haushalten konnten.

Hamilton mit Reifenplatzer in Silverstone 2013, Foto: Sutton
Hamilton mit Reifenplatzer in Silverstone 2013, Foto: Sutton

Pirelli allein den schwarzen Peter zuzuschieben, war allerdings nicht ganz korrekt. Denn die Kerbs in Silverstone sind trügerisch. Wer über die Streckenbegrenzung fährt, beansprucht den Reifen am Übergang des Kerbs zu den kleinen Betonflächen enorm. Den die Randsteine sind keineswegs abgerundet, sondern kantig, was besonders in der fünften Kurve zum Tragen kommt. Wer hier die Kurve schneidet, setzt die Reifen einer starken Belastung aus. Dennoch: Die meisten Teams hielten an der Kritik fest. "Soweit ich das Ganze verstehe, hätten wir diese Art an katastrophalen Schäden, die wir heute gesehen haben, mit einer anderen Konstruktion nicht gehabt", sagte Red Bulls Adrian Newey nach dem Rennen gegenüber Autosport.

Dass sich Pirelli auf keine Hauruck-Aktion einlassen würde, war klar. Auch wenn die Zeit drängte, wurden die neuen Pneus bis zum nächsten Rennen fertig. "Ich finde es gut, dass sich die Leute innerhalb weniger Tage zusammengetan, darüber geredet und eine Lösung gefunden haben", lobte der damals amtierende Weltmeister Sebastian Vettel das Krisenmanagement bei Pirelli. Und so konnten die neuen Pneus den Deutschen auch gleich überzeugen: "Der Eindruck ist positiv und keiner - und damit meine ich alle Fahrer und Teams - hatte annähernd die Probleme wie in Silverstone." Auch Fernando Alonso war voll des Lobes für Pirelli: "Es gibt nur Positives zu berichten. Das Verhalten der Reifen war sehr gut und es traten keinerlei Probleme auf."

Ein ähnliches Szenario zwei Jahre später, diesmal in Spa-Francorchamps und mit nur einem Hauptdarsteller. Sebastian Vettel lag kurz vor Rennende auf Podiumskurs, als ihm der rechte Hinterreifen plötzlich platzte. Der Ferrari-Pilot war als einziger auf einer Ein-Stopp-Strategie unterwegs, strapazierte den Medium-Reifen mit einer Laufzeit von 27 Runden allerdings nicht über. "Ich muss aufpassen, was ich jetzt sage", so Vettel nach dem Rennen mit ordentlich Schaum vor dem Mund. "Das eine ist das Ergebnis, das andere, wenn es 300 Meter früher passiert, knalle ich in die Wand. Die Qualität der Reifen ist miserabel. Die Vorgabe von Pirelli war, dass der Reifen 40 Runden hält, und wir hatten vielleicht 30 drauf"

Gegenüber Motorsport-Magazin.com vermutete Mario Isola das Alter der Reifen als Grund für den Platzer. Wenige Tage nach dem Unfall schloss Pirelli die Untersuchungen ab. Der beschädigte Reifen wies 63 Schnitte auf. Bei den Rennen zuvor gab es im Schnitt nur ein bis zwei Cuts am Reifen. Die Ursache: Bei Unfällen in den Rahmenserien haben sich Karbonteile auf der Strecke verteilt, die zu diesen kleinen Einschnitten am Reifen geführt haben sollen. Neben Vettel traf es auch Nico Rosberg im Freitagstraining.

Testfahrten: Mercedes bevorteilt?

Wenige Wochen vor dem Skandalrennen in Silverstone sorgte Pirelli für Unmut unter den Teams - allen außer Mercedes. Der italienische Reifenhersteller gedachte, für Kanada neue Reifenmischungen mitzubringen. Doch ohne entsprechende Tests wäre dies kaum möglich gewesen. Die Silberpfeile, die bekanntlich im Jahr 2013 mit am stärksten mit den Reifen zu kämpfen hatten, standen im Fokus der Kritik. Das gesamte Fahrerlager tobte.

Wieso? Das Team um den damaligen Teamchef Ross Brawn bekam nach dem Spanien GP die Möglichkeit, am Reifenproblem zu arbeiten. Rund 1.000 Kilometer sollen in Barcelona beim dreitägigen Test zurückgelegt worden sein. Pirelli habe Mercedes um Hilfe bei der Weiterentwicklung ihres Pneus gebeten. Auch hier musste Pirelli-Motorsportchef und Chef-Krisenmanager wieder ran. "Wenn wir von dem Mercedes-Test sprechen, sollten wir wissen, dass es ein Test für unsere Reifen war", so Hembery. "Es war der Beginn des Entwicklungsprogramms für die Reifen der Formel-1-Saison 2014 und hat absolut nichts mit diesem Jahr zu tun."

Mercedes habe dabei lediglich ausführende Funktion gehabt. Mitspracherecht hatte das Team keines. "Wir haben den Test durchgeführt. Es war zu 100 Prozent ein Pirelli-Test und wir haben definiert, was getestet wird, nicht Mercedes", so Hembery gegenüber Motorsport-Magazin.com. Nichtsdestotrotz: Red Bull reichte Protest ein, der Fall wurde vor dem internationalen FIA-Tribunal verhandelt. Mercedes wurde als Konsequenz des illegalen Tests am Young Driver Test im Juli in Silverstone ausgeschlossen und erhielt eine Verwarnung. Ebenfalls verwarnt wurde Pirelli. Im Urteil hieß es zwar, dass Mercedes einen unfairen Vorteil aus dem Test bezogen habe. Jedoch: "Weder Pirelli noch Mercedes verfolgten eine böswillige Absicht, Pirelli und Mercedes haben die FIA über ihre Absicht in Verbindung mit dem Test in Kenntnis gesetzt und die Erlaubnis erhalten. Mercedes hatte keinen Grund, anzunehmen, dass das Einverständnis nicht galt."

Pirelli-Tests 2017: Vettel mit breiten Regenreifen in Fiorano unterwegs (00:36 Min.)

Größte Baustelle: der Regenreifen

Während sich Pirelli in den vergangenen Jahren in eine immer konservativere Richtung entwickelte und größere Skandale nicht mehr zugunsten der Show in Kauf genommen werden, kehrte an der Reifenfront Langeweile ein. Reifenpoker und Strategiespielchen gehören weitestgehend der Vergangenheit an. Eine große Baustelle gilt es jedoch zu beseitigen: der Regenreifen ist nicht nur den meisten Fahrern in Dorn im Auge, Pirelli weiß um die Probleme des blau-markierten Reifens selbst Bescheid.

Räikkönen testet Regenreifen in Fiorano, Foto: Ferrari
Räikkönen testet Regenreifen in Fiorano, Foto: Ferrari

Auch hier liegt ein grundsätzliches Problem zugrunde: Durch die Testbeschränkungen fehlen Pirelli einfach die Möglichkeiten, um sicherzustellen, in die richtige Richtung zu entwickeln. Für kommende Saison sieht sich der italienische Reifenhersteller hingegen gut gerüstet. Nach Regenreifen-Tests in Fiorano, Paul Ricard und Abu Dhabi ist man guter Dinge. "Wir konnten das Aquaplaning und das Verhalten des neuen Regenreifens gut einschätzen", so Pirelli-Manager Mario Isola. "Der 2017er Reifen ist komplett neu. Das Design ist anders und wir haben eine größere Grundfläche."

Pirelli möchte aber auch an der Regenfront breit aufgestellt sein. Daher sein Vorschlag: "Vielleicht sollten wir zwei verschieden Regenreifen konstruieren. Wir würden nicht beide an eine Rennstrecke mitbringen. Wir würden für Monaco den Regenreifen Typ 1 und für Silverstone den Regenreifen Typ 2 haben. Das ist eine Möglichkeit, wenn es das Verhalten und die Performance des Reifens verbessert." Ob es dazu kommt, hängt eng damit zusammen, ob Pirelli ausreichend Testzeit zur Verfügung gestellt wird. "Wir finalisieren den Plan momentan und wir werden natürlich allen Teams anbieten, zu testen. Sobald wir wissen, welche Teams verfügbar sind, werden wir zusammen mit der FIA einen Kalender erstellen, um die Tests festzulegen und sie den Teams ausgeglichen zuzuteilen. Das ist der Plan für nächstes Jahr", so Isola.