Bei aller Freude für Nico Rosbergs Weltmeisterschaftsgewinn herrschte dicke Luft im Mercedes-Lager. Der Grund: Lahmer Lewis in Abu Dhabi. Hamilton versuchte in den letzten Runden Rivale Rosberg einzubremsen, um seine minimale Chance auf die Titelverteidigung zu wahren. Dabei widersetzte er sich sogar den Vorgaben seiner Chefs, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Es half nicht, letztendlich löste ihn Rosberg als Champion ab. Für Hamilton gab's stattdessen eine Standpauke nach dem Rennen - und mögliche Konsequenzen für die sportliche Zukunft der Silberpfeile.

"Alles ist möglich", kündigte Toto Wolff einige Stunden nach Rennende an. "Von: Wir ändern die Regeln nächstes Jahr, weil es in kritischen Rennen nicht funktioniert, bis: Wir geben beiden noch ein bisschen mehr Freiheit, wenn sie gegeneinander racen. Und wir werden mit ihnen die härtere Seite besprechen, in der wir das Gefühl hatten, dass die Werte nicht respektiert wurden. Das sind 180 Grad und ich bin noch nicht sicher, wohin die Nadel ausschlagen wird."

Anarchie funktioniert nicht

Die Mercedes-Führung befand sich in Abu Dhabi in einem großen Zwiespalt. Auf der einen Seite hatte Wolff im Vorfeld angekündigt, Hamilton und Rosberg frei gegeneinander fahren zu lassen. Auf der anderen Seite riskierte Hamilton mit seiner Taktik das oberste Mercedes-Ziel: den Rennsieg. Wolff war alles andere als begeistert, dass Hamilton die Teamanweisung missachtete - konnte es andererseits aber auch nachvollziehen.

"Eine Hälfte von mir sagt, mit 1.500 Mitarbeitern und 300.000 bei Daimler, sind das wichtige Werte, die respektiert werden müssen", so Wolff. "Diese Strukturen öffentlich zu unterwandern, bedeutet, deine eigenen Interessen über die des Teams zu stellen. Und Anarchie funktioniert in keinem Team und in keiner Firma."

Der Mercedes-Motorsportchef weiter: "Die andere Hälfte sagt, es war seine einzige Chance, an diesem Punkt die Weltmeisterschaft noch zu gewinnen. Und vielleicht kannst du von einem Rennfahrer - einer der Besten, wenn nicht sogar der Beste dort draußen - nicht verlangen, dass er dem in einer Situation nachkommt, in der ihm seine Instinkte so etwas verbieten." Es ginge nun darum, eine Lösung für die Zukunft zu finden. Bislang wurden Silberpfeile dafür gelobt, auf Teamorder zu verzichten. Nach dem Vorfall in Abu Dhabi könnte es 2017 anders aussehen. Wolff wollte erst einmal eine Nacht darüber schlafen, wie er sagte.

Hamiltons Unverständnis

Hamilton tat seinem Chef sicherlich keinen Gefallen damit, sich öffentlich am Teamfunk zu beschweren, dass er gerade die Weltmeisterschaft verliere. Trotz eines heranstürmenden Sebastian Vettel - der laut Wolff schnell genug war, um zu gewinnen - sah Hamilton seinen Sieg nie als gefährdet an. "Ich weiß nicht, warum das Team uns nicht einfach hat fahren lassen", sagte Hamilton später. "Es gab nie einen Moment, in dem ich glaubte, das Rennen zu verlieren. Es ist schade, dass sie das nicht zuließen, aber ihr Gedankengang ist ganz klar. Ich kämpfe und tue normalerweise nichts, das dem Team oder der Marke schaden könnte. Aber es ging nur noch zwischen Nico und mir."

Hamiltons Plan war im Vorfeld keine allzu große Überraschung gewesen. Experten und auch Mercedes selbst hatten damit gerechnet, dass der entthronte Champion das Einbremsen als Möglichkeit ansehen könnte. So kam es, wenn auch ohne Erfolg. "Wir waren uns ziemlich sicher, in welche Richtung es gehen würde", räumte Wolff ein. "Wir hatten das miteinkalkuliert. Aber wir haben sie frei fahren lassen, genau wie in den letzten Jahren. Das Team verdient Anerkennung für diese Entscheidung, sich nicht dazu zu entscheiden, eine Nummer 1 und eine Nummer 2 zu haben. Denn das wäre der einfachere Weg. Es war klar, dass wir nur eingreifen würden, wenn unser oberstes Ziel - den Sieg zu holen - bedroht ist."

Naiver Rosberg?

Einer war offenbar doch etwas überrascht, dass Pole-Setter Hamilton nicht nur vorne weg fahren würde: Weltmeister Rosberg. Es seien die intensivsten zwei Runden seines Lebens gewesen, so der neue Champion. "Vielleicht war das ein bisschen naiv, aber ich hatte das nicht erwartet", sagte Rosberg. Dabei hatte er Verständnis für seinen Rivalen, schließlich ging es bis zuletzt um die Weltmeisterschaft.

"Man kann Lewis verstehen, es ging um den Titel", so der frisch gebackene Weltmeister. Mehr wollte er nicht dazu sagen. Warum auch, nach dem Gewinn des ersten Titels gab es für Rosberg Wichtigeres, als über seinen ewigen Gegner zu sprechen. Klar ist aber auch, dass das Thema vor dem Beginn der neuen Saison noch einmal genau aufgerollt wird - und Konsequenzen aus diesem, wie es Wolff nannte, Präzedenzfall drohen.

Dabei hat Mercedes einen Leitfaden ausgearbeitet, der das Verhalten zwischen Hamilton und Rosberg regeln soll. Eine solch spezielle Situation wie jetzt in Abu Dhabi war allerdings bislang nicht enthalten. Das könnte sich ändern. "Das ist Motorsport und es würde es zum langweiligsten Sport aller Zeiten machen, wenn es für jede Situation eine Corporate Solution gäbe", sagte Wolff. "Wir hätten ein viel problemloseres Rennen haben können, wenn wir entschieden hätten, dass entweder der eine oder der andere gewinnt. So wie es bei Red Bull und Ferrari vor vielen Jahren passiert ist und wahrscheinlich auch in anderen Teams."

Hamilton sah seinen Sieg in Abu Dhabi nie gefährdet, Foto: Sutton
Hamilton sah seinen Sieg in Abu Dhabi nie gefährdet, Foto: Sutton

Das Privileg des Führenden

In Abu Dhabi hatte Mercedes im Grunde genommen nur eine Regel angewendet: den Anweisungen des Kommandostandes zu folgen, wenn es denn welche gibt. Technikchef Paddy Lowe forderte Hamilton während des Rennens zweimal dazu auf, den Speed zu erhöhen. Wolff über seinen Kollegen: "Wenn Paddy die Anweisung gibt, ist das die höchste Eskalationsstufe, die wir in unseren Verhaltensregeln festgelegt haben." Doch selbst Lowe zeigte ein gewisses Verständnis für den Ungehorsam seines Landsmannes. Wer an der Spitze fährt, diktiert die Pace. "Das ist das Privileg des Führenden", sagte Lowe schlicht.

Am Ende stand die Frage im Raum, ob Hamiltons Manöver sportlich war, oder eben nicht. Dazu gab es durchaus geteilte Meinungen im Fahrerlager. Etwa von Verfolger Vettel, der indirekt für den Schlamassel verantwortlich war. "Fair ist es nicht ganz, aber man kann es verstehen", meinte der Ferrari-Pilot. "Das entscheidet jeder für sich selbst." Vettels früherer Chef Helmut Marko zu Motorsport-Magazin.com: "Hamilton hat das einzig taktisch Richtige gemacht. Es war die einzige Chance. Und es geht ja nicht um Fairness, sondern um den WM-Titel."