Mit 19 Grands Prix sind in der 21 Rennen langen Formel-1-Saison 2016 jetzt genauso viele GP gefahren wie im gesamten Vorjahr. Für Sebastian Vettel bedeutet das 91 und 3 - 91 Punkte und 3 Siege weniger als 2015. Befand sich Vettel in der vergangenen Saison noch bis ins viertletzte Rennen rechnerisch im Titelkampf, ist davon 2016 nichts mehr zu spüren.

Ferrari trudelt der zweiten sieglosen Saison binnen zwei Jahren entgegen, Vettel selbst liegt gerade einmal auf WM-Rang vier - ohne Verbesserungsoption in den verbleibenden zwei Rennen. Ganz im Gegenteil: Vielmehr sitzt ihm Teamkollege Kimi Räikkönen direkt im Nacken. Anders als 2015 liegt der Iceman im Saisonverlauf 2016 im Gesamtklassement häufig vor Vettel.

Noch dazu wirkt Vettel das gesamte Jahr über angefressen, mit sich selbst und der Welt hadernd. Besonders deutlich äußert sich das am Boxenfunk. Kaum ein Wochenende vergeht ohne Zetern und Fluchen. Vorläufiger Höhepunkt zuletzt in Mexiko als sich Vettel im Nachgang sogar für seine verbalen Funk-Entgleisung bei der FIA entschuldigen muss, um einer potentiell drohenden Strafe zu entrinnen.

Ist die Ferrari-Krise auch eine Vettel-Krise?

"Das war keine Auffassung, die er hatte, als er für uns gefahren ist. Da verbalisiert sich seine Frustration. Jeder kann es hören", bescheinigt Red Bulls Teamchef Christian Horner seinem ehemaligen Piloten. "Er ist dieses Jahr offensichtlich ein bisschen frustriert, weil sie gedacht hatten, Mercedes vielleicht herausfordern zu können", bestätigt Ex-Teamkollege Daniel Ricciardo während Max Verstappen meint, Vettel sei gerade einfach ein sehr frustrierter Typ.

Es sind Äußerungen wie diese, die den als erhofften Retter der Roten und zweiten Michael Schumacher von Red Bull nach Maranello gekommenen Vettel für manchen Beobachter und Leitartikler bereits auf F1-Abschiedstournee wähnen lassen. Auch die entsprechende Attitüde - Frust-Funk und Leistungseinbruch - will man dem viermaligen Weltmeister bereits angemerkt haben. Zuletzt mischte sich Bernie Ecclestone himself ein. Der F1-Zampano meint, Vettel lasse Führungsqualitäten wie einst Michael Schumacher vermissen.

Jede Menge Kritik also, die da gerade auf Vettel einprasselt. Doch wie gerechtfertigt ist sie? Sicher, das Funk-Gejammer ist Fakt. Aber was ist mit den Leistungen des Deutschen? Leidet Vettel 2016 nur unter einer Scuderia Ferrari in der Krise oder trägt er selbst fleißig bei zum roten Formtief? Motorsport-Magazin.com auf der Spur der Ursachen für die magere Vettel-Saison.

Zuverlässigkeit

In Bahrain ist für Vettel schon nach dem Vorstart Schluss, Foto: Sutton
In Bahrain ist für Vettel schon nach dem Vorstart Schluss, Foto: Sutton

Ein ganz gewichtiger Faktor für Vettels deutlich schlechtere Bilanz im Vergleich zur Vorsaison ist die Standfestigkeit seines Ferrari. Schon im zweiten Rennen in Bahrain muss Vettel noch vor dem Start mit Motorschaden aufgeben. Was folgt, ist eine endlos scheinende Serie von Getriebeschäden. Sage und schreibe vier Mal muss Vettel in der Startaufstellung wegen Getriebewechsels um vier Plätze zurück, was ihn nicht nur einmal in die Crash-Gefahren des Mittelfeld-Getümmels am Start spült.

RennenFahrerQualifyingStartaufstellungRennplatzierung
RusslandVettel27Ausfall
MonacoRäikkönen611Ausfall
ÖsterreichVettel49Ausfall
GroßbritannienVettel611 9
SingapurVettel2222 5
JapanRäikkönen38 5

In Singapur kostet ihn die Getriebestrafe immerhin real keinen Startplatz, Vettel hatte sich ohnehin bereits als Letzter qualifiziert. Jedoch nicht durch einen Fehler, sondern einen anderen Defekt am Ferrari. Diesmal hatte es die Hinterachse erwischt. Abgerundet wird die Pannenstatistik durch einen Reifenschaden beim Österreich GP - Ausfall. Insgesamt steht Vettel damit eine Ecke schlechter da als der ebenfalls geplagte Räikkönen.

Zusammengefasst bildet die mangelnde Zuverlässigkeit also eine gewaltige Hypothek.

Unfälle

In Malaysia räumt Vettel Rosberg ab - und sich selbst, Foto: Sutton
In Malaysia räumt Vettel Rosberg ab - und sich selbst, Foto: Sutton

Zumindest an einem der Defekte trägt Vettel jedoch einen kleinen Anteil. Zu dem Getriebewechsel in Russland sieht sich Ferrari nur infolge der Startkollision beim vorherigen China GP gezwungen. Dort war Vettel am Start mit Teamkollege Räikkönen und Daniil Kvyat, damals noch Red Bull, kollidiert. Den attackierte Vettel zwar scharf, doch sahen einige mindestens eine Mitschuld beim Ferrari-Piloten. Anders in Russland selbst: Auch dort erwischte es Vettel. Wieder Crash mit Kvyat. Diesmal hatte allerdings klar der Russe die Schuld am resultierenden Vettel-Ausfall zu tragen.

Erneut andere Sachlage bei der Startkollision in Belgien. Hier lässt sich Vettel für eine zu enge Linienwahl in Kurve eins zumindest eine Mitschuld am Crash mit Verstappen und Räikkönen zuschreiben. Ganz auf Vettels Kappe geht dagegen sein Crash mit Nico Rosberg in Malaysia. Dort hatte der Ferrari-Pilot den Mercedes klar abgeschossen - und sich selbst aus dem Rennen genommen.

Zusammengefasst war Vettel also einmal klar Täter, zweimal zumindest mitverantwortlich - aber nur einmal ganz ohne Fehl und Tadel.

(Strategie-)Pech

Hierzu ist eigentlich alles gesagt, was zu sagen ist. Ferrari leistet sich 2016 einen Klopfer nach dem anderen. Absurder Nicht-Reifenwechsel bei Rennunterbrechung und in Führung liegend gleich beim Australien-Auftakt, trantütiger Stopp in einer schon beendeten VSC-Phase in Kanada ebenfalls ganz vorne dabei oder ein zu später Stopp fern von Gut und Böse in Japan als Höhepunkte der seitens Ferrari geraubten Vettel-Chancen. Bei Letztem gestand Vettel allerdings selbst eine gewisse Mitschuld, die Idee für gut befunden zu haben.

Ganz anders in Baku. Dort verweigerte sich Vettel sogar einer Boxenstopp-Order Ferraris. Gute Idee, belohnt mit P2. In Spanien derweil litt Vettel ebenfalls unter der Strategie. Dort war es allerdings weniger Ferrari zuzuschreiben, sondern schlicht Pech. Warum wir eingangs eigentlich schrieben? Weil Vettel zwar fast genauso oft die Strategie-Gurke bekam wie sein Teamkollege, aber auch manches Mal Strategie-Gold. Wie Ferrari Vettel in Singapur vom letzten Startplatz durchs Feld bis auf P5 schleuste etwa, war zeugte durchaus von einem Rest-Funken strategischer Brillanz in Maranello.

Zusammengefasst hat es Vettel also ganz gehörig erwischt. Die vielleicht besten Siegchancen (AUS, KAN) gingen verloren, genauso mögliche Podien (JAP/SPA).

Ferrari-Speed

Um einen klaren Cut zu machen: So richtig rund lief es für Ferrari was den puren Speed betrifft nur bis Russland. Mit dem Monaco GP war Red Bull wenigstens gleichauf. Doch nicht umsonst gilt der SF16-H als Wundertüte. Mal schlug das Pendel nach oben aus. Doch häufiger als die Lebenszeichen waren die kräftigen Ausschläge nach unten - besonders gut abzulesen an den Ergebnissen im Qualifying. Viel zu oft bekam Ferrari Reifen und/oder Bolide nicht ins optimale Arbeitsfenster.

Besonders in Monaco, Spanien, den USA, Großbritannien, Ungarn und Deutschland kämpfte Vettel daher mit stumpfen Waffen. Definitiv eines der Schlüsselproblem der schwachen Saison also. Nicht umsonst bemängelte Teamkollege Räikkönen genau wie Vettel im Saisonverlauf immer wieder, woran es fehle, sei schlicht "purer Speed".

Zusammengefasst hat Vettel mit dem SF16-H einfach nicht die gleiche Qualität unter dem Allerwertesten wie im Vorjahr. Ferrari hatte über den Winter radikale Änderungen vorgenommen, musste riskieren, um die Lücke zu Mercedes zu schließen. Zu Saisonstart hat das - reine Pace betreffend - auch funktioniert, nur erinnerte die Scuderia im Entwicklungsrennen mehr an alte Stute denn springendes Pferdchen. Noch dazu war es schlicht zu schwierig, immer das Beste aus dem Paket herauszuholen.

Eigene Pace / Fehler

"Er hat einfach eine bessere Runde erwischt." Dieser Vettel-O-Ton kommt 2016 deutlich häufiger vor als noch 2015. Gemeint mit "er": Kimi Räikkönen. Der Finne fährt in der aktuellen Saison wesentlich konstanter als in den beiden Vorjahren. Im Qualifying-Duell liegt der Finne 2016 gerade einmal mit 9:10 gegen Vettel zurück. Dabei ist das nicht einmal Räikkönens Paradedisziplin. Woher rührt die Ausgeglichenheit? Ist Räikkönen schneller oder Vettel langsamer geworden?

Eher Ersteres. Ein viermaliger Weltmeister bricht nicht so plötzlich ein, aber ein immerhin einmaliger Weltmeister kann umso mehr zulegen, wenn im Umfeld plötzlich alle Teile für ihn ineinander greifen. Genau das sei bei ihm 2016 geschehen, bestätigte Räikkönen jüngst. Trotzdem müsste Vettel schneller sein und weniger Fehler machen - zumindest als angeblicher Nummer 1 oder wenigstens 1A. Doch ist das genauso oft der Fall wie eben nicht. Noch dazu scheint sich die beim Finnen gesunkene Fehlerquote stattdessen bei Vettel erhöht zu haben. Neben der schon erwähnten Zwischenfällen bei den Starts in Belgien und China kommen noch Fahrfehler wie in Silverstone, Konzentrationsfehler wie in Deutschland und illegale Überholmanöver wie zuletzt in Mexiko dazu.

Zusammengefasst ist Vettels Pace 2016 sicher keine Katastrophe - besonders verglichen mit den Einbrüchen seines Arbeitsgeräts. Dennoch muss sich Vettel die Fragen stellen, warum Räikkönen mit demselben Material plötzlich auf Augenhöhe ist und wie er selbst die Fehlerquote wieder in den Griff bekommt.

Fazit

Kimi Räikkönen fährt 2016 deutlich häufiger vor Vettel als 2015, Foto: Sutton
Kimi Räikkönen fährt 2016 deutlich häufiger vor Vettel als 2015, Foto: Sutton

Die Erklärung für Sebastian Vettels schwache Saison 2016 ist nicht eindimensional. Das belegen die zuvor aufgeführten Faktoren, hängen sie doch zum Teil zusammen und bedingen einander. Allen voran gilt dies für Ursache eins, die Defektanfälligkeit des Ferrari. Daraus resultieren nicht nur schlechtere Startpositionen, sondern auch ein größeres Risiko, im Startgetümmel in Crashs verwickelt zu werden oder diese durch eigene Fehler gar selbst auszulösen.

Noch dazu hängen auch Defektanfälligkeit und mangelnde Speed des Boliden zusammen, sind sie doch zwei Zweige desselben morschen Astes: Das im Winter radikal geänderte Konzept - sowohl von Anordnung der Power Unit als auch Verkleidung - fordert seinen Tribut. Ferrari fällt es unglaublich schwer, das Paket jedes Wochenende zu verstehen zusammen zu bekommen. Dasselbe gilt unverständlicherweise für die davon eigentlich völlig losgelöst Strategie-Abteilung. Vielleicht will die nur gutmachen, was nicht gutzumachen ist.

Wenn auf dieser extrem anfälligen Basis dann auch noch ein Kimi Räikkönen wieder sein wahres Gesicht zeigt, ist es nur logisch, dass ein Sebastian Vettel beileibe nicht mehr so zu glänzen weiß wie im Vorjahr und vor lauter Frust vielleicht auch mal zwei, drei Fehler mehr macht als normal. Ein tiefgreifende Krise muss man ihm deshalb noch nicht andichten. Eher Ferrari.