Die Formel-1-Saison 2016 macht Spaß, das Ende des Singapur GP war sensationell. Im Mittelpunkt: Die Strategen von Mercedes, Red Bull und Ferrari. Knapp 20 Runden vor Rennende sah es eigentlich so aus, als wäre das Rennen gegessen. Nico Rosberg führte knapp vor Daniel Ricciardo, ließ den Red-Bull-Piloten aber nie zu nahe kommen. Kimi Räikkönen hatte Lewis Hamilton überholt und war auf dem Weg zu Platz drei.

Binnen weniger Runden änderte sich die Ausgangslage komplett: Rosberg musste plötzlich um seinen sichergeglaubten Sieg zittern, Hamilton stand auf einmal doch wieder auf dem Podium. Motorsport-Magazin.com erklärt, wie Mercedes mit einem Taktik-Coup eine Kettenreaktion auslöste und plötzlich Rosbergs Sieg in Gefahr brachte.

Start-Stint 1. StoppReifen 2. Stint2. Stopp3. Stint3. Boxenstopp4. Stint
Rosberg Ultrasoft Runde 16 Soft Runde 33Soft
Ricciardo Supersoft Runde 15 Supersoft Runde 32Soft Runde 47Supersoft
Hamilton Ultrasoft Runde 15 Soft Runde 34Soft Runde 45Supersoft
Räikkönen Ultrasoft Runde 17 Supersoft Runde 33Soft Runde 46Ultrasoft

In Runde 34 waren die Positionen an der Spitze eigentlich bezogen. Rosberg in Führung, Ricciardo auf Platz zwei, Räikkönen auf drei und Hamilton auf vier. Hamilton kam als Letzter des Führungs-Quartetts zum Stopp und holte sich wie die anderen ebenfalls die Soft-Reifen ab. Für alle vier sollte das eigentlich der letzte Boxenstopp gewesen sein, der Soft-Reifen sollte laut Pirelli bis zu 31 Runden vertragen.

Während Ricciardo sich an der Spitze langsam an Rosberg heranarbeitete, aber nie näher als drei Sekunden kam, hatten Räikkönen und Hamilton knapp zehn Sekunden dahinter ihren eigenen Kampf. In der Runde vor dem Boxenstopp machte Hamilton einen Fehler, Räikkönen nutze den eiskalt und ging am Mercedes-Piloten vorbei. Auf der Strecke schien Hamilton keinen Stich mehr gegen Räikkönen zu machen.

Hamilton-Stopp mit Domino-Effekt

Also entschied sich Mercedes dazu, Hamilton noch einmal an die Box zu holen und einen Schlusssprint auf den Supersoft-Reifen zu machen. Unmittelbar vor dem Stopp in Runde 45 verkleinerte Hamilton den Rückstand auf Räikkönen noch auf 2,1 Sekunden. Mercedes wusste: Holt Ferrari Räikkönen als Reaktion ebenfalls zum Stopp, kommt Hamilton mit einem Undercut vorbei. Holt Ferrari Räikkönen nicht mehr, muss Hamilton seine frischen Reifen nutzen, um Räikkönen noch einzuholen.

"Natürlich wäre ich mit den Soft Reifen durchgekommen", sagte Kimi Räikkönen nach dem Rennen. Doch Ferrari stieg auf Mercredes' Spiel ein und holte Räikkönen eine Runde später zum Stopp. Weil Hamilton auf den frischen Supersofts so viel schneller war, funktionierte der Undercut. Singapur ist mit der langen Rundenzeit prädestiniert dafür. Ferrari entschied sich bei Kimi Räikkönen im finalen Stint für die Ultrasofts, allerdings konnte er gegen Hamilton nichts mehr ausrichten.

Ferrari muss sich die Frage gefallen lassen, ob man auf die Mercedes-Strategie hereingefallen war. Was wäre passiert, wenn Räikkönen auf Softs zu Ende gefahren wäre? "Wir müssen sehen, was wir hätten besser machen können", sagte Räikkönen später. "Offensichtlich haben sie es geschafft, wieder vor uns zu kommen. Ich habe einen Platz verloren und konnte nicht viel machen." Teamchef Maurizio Arrivabene versuchte einmal mehr, seine Strategie-Ingenieure in Schutz zu nehmen: "Wir sind nicht zu 100% sicher, wir müssen uns die Daten ansehen. Jetzt denke ich, es war die richtige Entscheidung."

Räikkönen verlor das Podium in der Box, Foto: Sutton
Räikkönen verlor das Podium in der Box, Foto: Sutton

Hundertprozentig lässt es sich im Nachhinein nie sagen, weil man immer Annahmen machen muss. Die Variable ist in diesem Fall, wie sich die Rundenzeiten von Räikkönen auf den Soft-Reifen weiterentwickelt hätten. Von Runde 35 bis Runde 45 fuhr Räikkönen extrem konstante Zeiten. Es gab kein Anzeichen, dass die Reifen stärker abgebaut hätten.

Als Vergleichsgröße dient Rosbergs Schlussstint. Seine Reifen waren genauso alt wie die von Kimi Räikkönen. Bei Rosberg sind die Reifen bis zum Ende des Rennens konstant geblieben. Wendet man dieses Schema auf Räikkönen an und vergleicht Hamiltons Schlusssprint auf den Supersofts, hätte der Ferrari-Pilot von Runde 47 an zwischen 19 und 20 Sekunden verloren. Hamilton fuhr im letzten Stint am Limit, schließlich musste er Räikkönen hinter sich halten.

Durch den Boxenstopp verlor Hamilton etwa 24 Sekunden. Zusätzlich zu den zwei Sekunden, die Räikkönen vor Hamiltons Stopp Vorsprung hatte, wäre er bei den gegebenen Annahmen etwa sechs Sekunden vor Hamilton ins Ziel gekommen. Er hätte also durchaus noch Puffer gehabt. Ferrari hat sich von Mercedes in einen Fehler treiben lassen.

Red Bull musste auf Hamilton und Räikkönen warten

Durch Hamiltons Taktik wurde das Rennen auch an der Spitze noch einmal spannend. Zu diesem Zeitpunkt fuhr Ricciardo etwa vier Sekunden hinter Rosberg, konnte den Rückstand tendenziell etwas verkleinern. Auf der Strecke wäre es allerdings mit gleichen Waffen unmöglich gewesen, an Rosberg vorbeizugehen. Red Bull hatte eine Möglichkeit: Einen Schussprint auf den Supersofts.

0,488 Sekunden hinter Rosberg überquerte Ricciardo die Ziellinie. Ein oder zwei Runden mehr, und Ricciardo wäre vielleicht vorbei gewesen. Red Bull konnte Ricciardo aber nicht früher reinholen, weil er bei einem Stopp hinter Hamilton und Räikkönen zurückgefallen wäre. Dann hätte er erst die beiden überholen müssen, was zu viel Zeit gekostet hätte. Red Bull musste deshalb warten, bis Hamilton und Räikkönen gestoppt hatten. Andernfalls hätten Ferrari und Mercedes auf einen Ricciardo-Stopp reagieren und ihre Piloten draußen lassen können.

Also kam Ricciardo erst in Runde 47 und holte sich einen Satz Supersoft. Mercedes hatte mit Rosberg dann zwei Möglichkeiten: Ebenfalls reinkommen oder draußen bleiben. Rosberg fühlte sich auf den Soft-Reifen nicht besonders wohl, die Verfolger waren allesamt schneller. Und Rosberg wusste: "Wenn ich ihn cover, also auch an die Box fahre, ist das Rennen entschieden. Wenn nicht, wird es ein Rennen bis zum Ende."

Dieses Risiko wollte Mercedes nicht eingehen, auch wenn die eigenen Hochrechnungen sagten, dass man etwa sieben Sekunden Luft haben würde gegen Rennende. Mercedes orderte Rosberg eine Runde später an die Box, revidierte aber kurz darauf die Entscheidung und ordnete Rosberg an, draußen zu bleiben. "Ich habe verstanden, was los war", beruhigte Rosberg nach dem Rennen. "Ich habe den Verkehr vor mir gesehen und wusste, was Sache ist."

"Wir wollten mit ihm einen dritten Stopp einlegen, aber Ricciardo fuhr eine fantastische Out-Lap nach seinem letzten Boxenstopp. Nico hatte hingegen auf seiner Runde Verkehr, was ihn Zeit kostete", erklärt Toto Wolff. "Zusammen bedeuteten diese Faktoren, dass er die Position verloren hätte." Unmittelbar vor seinem Stopp verkleinerte Ricciardo den Rückstand auf Rosberg nämlich auf drei Sekunden. In seiner Outlap holte er in den beiden letzten Sektoren 3,9 Sekunden auf Rosberg auf. Ricciardo wäre tatsächlich vorbei gewesen.

Also trugen Ricciardo und Rosberg die letzten 15 Runden ein Fernduell aus. 25,5 Sekunden musste der Australier abknabbern. Mercedes merkte schnell, dass die ursprüngliche Hochrechnung mit sieben Sekunden nicht klappen würde. "In zwei oder drei Runden, als Ricciardo so viel schneller fuhr, hat der Algorithmus keinen Vorsprung mehr angezeigt", gesteht Wolff.

Ricciardo fährt unfassbare Rundenzeiten, holt anfangs über drei Sekunden pro Runde auf den Mercedes auf. Seine Reifen bauen nur langsam ab, aber Runde 57 wird ihm zum Verhängnis. Felipe Massa und Esteban Gutierrez kämpften um Platz elf, während sich das Führungsduo extrem schnell näherte.

Esteban Gutierrez machte sich einmal mehr unbeliebt, Foto: Sutton
Esteban Gutierrez machte sich einmal mehr unbeliebt, Foto: Sutton

An Massa kam Rosberg problemlos vorbei, bei Gutierrez verlor er ein wenig. Doch Ricciardo verlor noch mehr. "Gutierrez macht es zumindest für alle gleich schwierig", nahm es Wolff später mit Humor. "Aber ehrlich: Zwei Leute kämpfen vorne um den Rennsieg, es geht um jede Zehntel und dann cruist einer rum und stört das Rennen - und es ist immer der gleiche Junge. Wir haben uns bei Charlie [Whiting] gemeldet. Felipe ist aus dem Weg gefahren und Esteban - der ein netter Junge ist - ist weiter gecruist und hat sich gefreut, dass er einen Vorsprung auf Felipe herausgefahren hat." Rund eine Sekunde kosteten Ricciardo die Überrundugen mehr.

Fast hätte er dann aber noch von Überrundungen profitiert. Auf den letzten Metern liefen Rosberg und Ricciardo auf Magnussen auf. Ricciardo kam immer näher, für einen wirklichen Angriff reichte es nicht mehr. Red Bull hätte eine Runde mehr gebraucht. Toto Wolff wiegelt aber ab: "Es war eine Frage, wann wir pushen wollten."

Rosberg hatte im letzten Stint noch ein paar Reserven, die er sich für die letzten Runden aufhob. "Wir wollten ihm alles für die letzten drei oder vier Runden geben", erklärt Wolff. Deshalb bekam er nicht sofort die komplette Motorleistung, als klar wurde, dass es mit Ricciardo knapp wird. Dann hätte Rosberg gegen Rennende womöglich nicht mehr die volle elektrische Energie zur Verfügung gehabt.

Mercedes hat strategisch alles richtig gemacht: Mit Hamilton einen Platz gewonnen, mit Rosberg den Sieg eingefahren. Mercedes konnte nur auf Ricciardo reagieren, weil bei einem zusätzlichen Rosberg-Stopp Ricciardo hätte draußen bleiben können. Als Mercedes dann hätte reagieren können, war es zu spät. Das merkte Mercedes und änderte die Strategie sofort wieder. Red Bull hat bei Ricciardo ebenfalls alles richtig gemacht. Erst gewartet, bis hinten genug Raum frei ist, dann sofort gestoppt. Nur Ferrari muss sich Kritik für die Strategie gefallen lassen. Wäre noch ein Safety-Car gekommen, würden wir die Diskussion allerdings komplett anders führen.