Das Heulen eines mächtigen V8-Motors von Renault hallt durch die Berglandschaft. Eine riesige Schnee-Fontäne jagt die nächste. Das nennen wir Dirty Air! Wer braucht da noch Flow-viz-Farbe? Wahrscheinlich ein Perfektionist wie das Aerodynamikgenie, das diesen für einen Schnee-Einsatz umgerüsteten Red Bull RB7 entworfen hat. Adrian Newey ist es zuzutrauen, dass er sogar den Luftfluss seines fünf Jahre alten Weltmeisterautos noch bis ins kleinste Detail anhand der Schnee-Fontänen studieren würde. Verursacher des Schneegestöbers ist an diesem kühlen Wintertag Mitte Januar ein gewisser Max Verstappen. Der Niederländer fräst eine Spur nach der anderen in die Schneepisten der legendären Streif in Kitzbühel.

Die Fans sind begeistert. Nur einer ist nicht ganz zufrieden. "Ich hatte nicht so viel Grip", analysiert Max Verstappen nach seinem ungewöhnlichen Snow Run im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. Blutjung, aber schon ein notorischer Nörgler? So etwas ähnliches: ein moderner F1-Fahrer! Er gibt jeden Eindruck wieder, durchleuchtet jeden Run genau, möge er auch noch so unbedeutend gewesen sein. Rennfahrer sind nun einmal nie zufrieden. Streben stets nach mehr Power, mehr Grip, mehr Erfolgen. "Der Red Bull hat aber natürlich immer sehr viel Grip", fügt Verstappen schnell hinzu.

Zu diesem Zeitpunkt steht er noch in Diensten von Toro Rosso und möchte seinem möglichen zukünftigen Arbeitgeber natürlich nicht den Grip absprechen. Ein weiterer Beweis dafür: Vor uns steht zwar ein 18-Jähriger, doch er ist schon in diesem zarten Alter bereits ein echter Medienprofi. Nicht umsonst ist er der jüngste Grand Prix-Starter in der Geschichte der Formel 1. Gestählt durch jahrelanges Training mit seinem Vater Jos, seines Zeichens selbst ehemaliger F1-Pilot, und das knallharte Red-Bull-Nachwuchsprogramm. Diesem gehörte Verstappen allerdings, anders als viele seiner talentierten Kollegen, nicht besonders lange an. Dafür war sein Aufstieg in die Beletage des Motorsports viel zu kometenhaft.

Max Verstappen: Das Erwachen der Macht

Vier Monate später. Sonne statt Schnee. Der Circuit de Barcelona-Catalunya anstelle der Streif. Ein aktueller RB12 Rennwagen statt des RB7 Show Cars. Details haben sich verändert, der Hauptdarsteller jedoch nicht: Max Verstappen. Sein Sensations-Sieg versetzt ganz Holland ins Verstappen-Fieber. Binnen weniger Stunden nach Verstappens erstem Grand-Prix-Triumph in Barcelona schießen die Ticketverkäufe für den Großen Preis von Belgien in Spa-Francorchamps (das nächste zu einem Heimrennen für den Niederländer) in die Höhe. Es gibt sogar einen eigenen Verstappen-Song. Der 18-Jährige ist der neue Liebling der Massen. 'Max! Max!! Max!!!' Jüngster Sieger der Formel-1-Geschichte, umjubelter Held, Jungstar, Wunderkind - die Superlative nehmen kein Ende.

"Das ist eine Bilderbuchkarriere", bestätigt Motorsport-Magazin.com-Experte Christian Danner. Verstappen bringt alles mit, was ein potentieller Superstar braucht. Er lebt den Motorsport seit Kindestagen an. Racing liegt ihm im wahrsten Sinne des Wortes im Blut. Schließlich ist nicht nur sein Vater Jos früher Formel-1-Rennen gefahren, sondern war auch seine Mutter Sophie eine erfolgreiche Kartrennfahrerin. "Er bringt einen außerordentlichen Grundspeed mit", sagt Franz Tost, der Verstappens F1-Einstieg bei Toro Rosso begleitete. Verstappen Junior sei professionell, bringe die nötige Leidenschaft und Disziplin mit. Vor allem letzteres ist eine Grundvoraussetzung, wenn man unter der Führung von Tost erfolgreich sein möchte. Disziplin gehört zu seinen vier goldenen Grundvoraussetzungen für einen Nachwuchsfahrer. Das Quartett komplettieren Talent, Leidenschaft und Innovationsfähigkeit. Auch diesen letzten Punkt erfüllt Verstappen vorbildlich, wie Tost verrät: "Er macht sich auch immer wieder Gedanken, wie er sich weiter verbessern kann."

"Verstappen war jetzt zweimal zur richtigen Zeit am richtigen Ort", fügt Danner hinzu. Auch das zeichnet die ganz Großen der Branche aus. Sie umgeben sich mit den richtigen Personen, den richtigen Förderern und fällen die richtigen Entscheidungen, selbst wenn sie einmal wehtun. Im Fall von Verstappen gehörte selbstverständlich auch das Glück des Tüchtigen dazu. "Es bringt dir nichts, zwei super geile Rennen zu fahren, wenn du nirgends hin wechseln kannst", betont Danner. Solche Eintagsfliegen geraten rasch in Vergessenheit. "Verstappen ist in die richtige Situation hineingepurzelt und hat das gnadenlos ausgenutzt. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass er so ein großes Talent ist."

Der Niederländer ist zweifelsohne ein Supertalent. Nicht umsonst wurde er angeblich auch von Ferrari und Mercedes umworben - oder von seinem Vater bei diesen zum Steigern des Marktwertes angeboten. Verstappen ist jedoch nicht das einzige vergleichbare Talent. Der Unterschied: Fahrer wie Nico Hülkenberg und Romain Grosjean haben bislang nie die Gelegenheit erhalten, mit Topmaterial an den Start zu gehen. Umgedreht konnten sie sich aber eben auch nicht selbst in diese Position bringen. "Es gehört schon viel Selbstbewusstsein und ein gehöriges Selbstverständnis dazu, um mitten in der Saison aus dem Toro Rosso in den Red Bull umzusteigen", sagt Danner. "Aber das hat Max. Er hat sein Leben lang ja nie etwas anderes gemacht, als erfolgreich Rennen zu fahren."

Mad Max Verstappen: Die dunkle Seite der Macht

Ist Verstappen also der neue Schumacher? In einem Punkt gleicht er dem Rekordweltmeister schon jetzt: Verstappen spaltet die Szene. Er genießt im Paddock den Ruf eines Bad Boys. Manche Fahrerkollegen und Experten sagen ihm Egoismus, ja sogar eine gewisse Arroganz nach. Ein unabhängiger Betrachter dürfte dabei wahrscheinlich denken, dass es wohl Schlimmeres gibt, als mit Michael Schumacher verglichen zu werden - außer natürlich, man heißt Jacques Villeneuve...

Der kanadische Ex-Champion lässt seit dem Formel-1-Einstieg des Niederländers kein gutes Haar an Verstappen. "Jungs wie er kommen in die Formel 1 und denken, dass es ein Videospiel ist", sagte er nach Verstappens ersten F1-Rennen 2015. "Man muss ihnen auf die Finger klopfen, wie in der Schule, damit sie wissen, dass man das nicht macht. Man kämpft anständig!"

Ein Blick in die Strafpunktetabelle von Verstappens Debütsaison scheint dem Kanadier Recht zu geben: Max sammelte in den 19 Rennen insgesamt acht Strafpunkte - mehr als jeder andere Fahrer im Feld, einschließlich Pastor Maldonado. Nach Verstappens doppeltem Leitplanken-Kuss in Monaco, nur zwei Wochen nach seinem grandiosen Sieg, wiederholte Villeneuve seine Kritik abermals: "Ein anderer Fahrer würde jetzt nach Hause geschickt werden. Aber weil es Max Verstappen ist, fangen die Leute an, Entschuldigungen zu suchen." Deshalb habe er auch keine Konsequenzen zu befürchten. "Er wird von Red Bull geliebt, er wird von den Fans geliebt, er wird von allen geliebt. Er wird nicht im gleichen Maße wie andere Fahrer kritisiert."

Der vermeintliche Bad Boy Verstappen bleibt trotz der Kritik cool. "Jacques ist immer sehr negativ", kontert er im Interview mit Motorsport-Magazin.com. "Wenn jeder 'ja' sagt, sagt er grundsätzlich 'nein'." Verstappen selbst kümmert sich nicht darum, was andere über ihn denken. Vielmehr fordert er eine härtere Gangart in den Zweikämpfen und weniger Strafen für Berührungen. "Sobald man ein Manöver macht oder sich leicht berührt, heißt es: Oh, dafür sollte er bestraft werden! Ich sage: Nein, es ist ein Rennzwischenfall! Wir Fahrer sollten keine Angst haben, ein Überholmanöver zu setzen, nur weil man vielleicht eine Strafe bekommen könnte."

Eine starke Meinung für einen 18-Jährigen, der nach der Bekanntgabe seines F1-Aufstiegs von vielen sogar als Gefahr angesehen wurde. Am Ende verstummten die Kritiker schnell und schwenkten zu überschwänglichen Lobeshymnen über. Ähnliches ereignete sich schon einmal in der Saison 2001, als ein gewisser Kimi Räikkönen sein F1-Debüt nach gerade einmal 23 Autorennen nur unter Vorbehalt geben durfte. Andere Zeiten, die gleichen Sitten. Damals war der kleine Max übrigens gerade einmal drei Jahre alt. 15 Jahre danach kämpfte er mit dem Finnen in Barcelona um den Sieg - und setzte sich ohne Fehler, fast schon in bester Iceman-Manier, gegen ihn durch.

Der Erfolg gibt Verstappens Art Recht. Andererseits heißt es nicht ohne Grund im Motorsport: 'Manchmal musst du ein Arschloch sein, um erfolgreich zu sein.' Franz Tost stimmt dem gewissermaßen zu. "Ein erfolgreicher Rennfahrer muss extrem egoistisch sein, muss auf seinen Vorteil bedacht sein", bestätigt der Österreicher. "Alles andere darf ihn nicht interessieren. Diese Eigenschaften verkörpert Max sehr wohl, deshalb wird er erfolgreich sein."

Tost bevorzugt einen fordernden Fahrer mit Durchsetzungswillen jederzeit gegenüber einem Mitläufer. Dennoch sieht Danner den Niederländer noch lange nicht auf dem Weltklasseniveau, das früher Schumacher oder Ayrton Senna verkörperten. "Es ist möglich, dass er mit dem nötigen Quäntchen Glück und seinen herausragenden Fähigkeiten eines Tages einmal dorthin kommt. Aber vorher muss er es erst einmal umsetzen." Dass Tost seinem ehemaligen Schützling eines Tages den WM-Titel zutraut, ist kein Wunder. Schon eher, dass auch Verstappen-Paradekritiker Villeneuve an eine erfolgreiche Zukunft des 'Wunderkinds/Bad Boys' glaubt: "Wenn er aus seinen Fehlern lernt, kann er es schaffen." Manchmal gewinnt eben auch die dunkle Seite...

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