Gerade als Red Bull drohte, Ferrari als zweite Kraft und erster Mercedes-Jäger abzulösen, schlug die stolze Scuderia zurück. Zum Kanada GP vergangenes Wochenende rüstete Ferrari mit neuem Turbolader, neuer Hinterachse und manch anderem Upgrade auf, von dem die Öffentlichkeit weniger erfuhr. Beste Ferrari-Geheimniskrämerei.

Die Neuerungen hatten Erfolg: Ferrari war nicht nur wieder Nummer zwei vor Red Bull, sondern auch deutlich näher an den Silberpfeilen dran. Jetzt gilt es, in Baku den Schritt vorbei zu setzen. Beim Europa GP will Ferrari endlich sein Sieg-Debüt 2016 feiern. Das jedenfalls wäre beim Premierenrennen in Aserbaidschan doch äußerst passend.

Das letzte Rennen: Sieg verzockt!

Beinahe wäre es passiert: In Kanada war für Sebastian Vettel der erste Saisonsieg 2016 greifbar. Fehlten dem Ferrari-Piloten schon im Qualifying nur Sekundenbruchteile, um die Mercedes-Eintracht in Reihe eins zu stören, katapultierte sich Vettel gleich am Start sensationell in Führung. Doch wie schon beim Saisonstart in Australien floppte kurz darauf die Ferrari-Strategie.

Während eines Virtuellen Safety Cars verzockte sich die Scuderia mit einem frühen Extra-Stopp: Die VSC-Phase endete unerwartet früh, der Zeitvorteil blieb minimal. Bei Kimi Räikkönen verpuffte dieser gar komplett. Das Resultat: Lewis Hamilton siegte mit einem Stopp weniger doch wieder souverän vor Vettel. Räikkönen blieb nicht mehr, als nach schwierigem Kampf im Mittelfeld mit P6 Schadensbegrenzung zu betreiben.

Die Neuerungen: Neue Teile auf neuem Terrain nutzen

Die großen Neuerungen am Boliden hat Ferrari also bereits in Kanada an den SF16-H montiert. Jetzt gilt es, diese auch auf einem fast vollständig unbekannten Kurs zum Arbeiten zu bringen. Dass es in Baku eine mehr als zwei Kilometer lange Vollgas-Passage gibt, kommt Ferrari angesichts des neuen Turboladers gerade recht, besonders gegen Red Bull. Doch nicht nur in Sachen Power Unit muss Ferrari in Aserbaidschan liefern. Es gibt auch enge, kurvige Abschnitte. Red-Bull-Land also.

Entsprechend akribisch ging die Scuderia im Simulator zu Werke. "Wir haben eine spezielle Session absolviert, um die Charakteristik dieser Strecke zu verstehen - und es ist eine Herausforderung. Sie beinhaltet eine sehr schwierige Abfolge von Kurven und eine lange Gerade. Dann fährst du auch noch durch die Stadt mit der berüchtigten Kurve acht, ein ganz eigentümlicher Teil dieser Strecke, wo der Kurs urplötzlich extrem eng zuläuft", schildert Vettels Renningenieur Riccardo Adami.

Die Erkenntnis dieses Spezialprogramms ist eindeutig zweideutig: Der Europa GP erfordert einen schwierigen Kompromiss. "Es wird für uns eine Herausforderung, am Setup zu arbeiten, um die richtige Balance zwischen der langen Geraden, den langsamen Kurven und den Bremszonen zu finden", beschreibt Adami das Dilemma. "Auf dem Papier werden wir wegen der langen Gerade aber mit wenig Abtrieb fahren. Du musst hier für die optimale Rundenzeit mit der Downforce runtergehen, um die Topspeed zu optimieren." Erschwert werde das zusätzlich durch die erwartet windigen sowie potentiell extrem heißen Bedingungen.

Die Erwartungen: Endlich siegen!

Der Premierensieg 2016 beim Debütrennen in Baku. Das wäre doch eine wunderbare Geschichte für Ferrari. Und genau das ist der Plan für Baku. "Sebastian hatte ein großartiges Rennen, das gezeigt hat, das dieses Auto Muskeln hat. Jetzt müssen wir engagiert weiterarbeiten und endlich nach Siegen streben", forderte Teamchef Maurizio Arrivabene nach Rang zwei in Kanada.

Ein Anspruch, den Sebastian Vettel zu gerne erfüllen würde. "Ich weiß, dass dieses Auto ein Schritt nach vorne ist und auch, dass da immer noch Potential drin steckt. Dieses Wochenende waren wir ganz nah dran, nächste Woche werden wir hoffentlich da sein", sagt Vettel.

Gerade in Baku zu siegen wäre für Vettel besonders. "Ich bin ein großer Fan von Stadtkursen", erklärt er. Warum? Wegen der Herausforderung. Die reizt den Ferrari-Fahrer immens. "Normalerweise sind sie (Stadtkurse) sehr heikel, uneben, hart, sehr eng. Hoffentlich wird Baku diesen Erwartungen gerecht und hält mit anderen Straßenkurs-Klassikern mit", sagt Vettel. "Aber ich habe schon gehört, dass die Strecke sehr aufregend sein soll."

Als interessant bezeichnet unterdessen sein Renningenieur die Strecken-Erkundungstour im Simulator. "Wir hoffen nur, dass wir es gut gemacht haben", sagt Adami mit einem Zwinkern. Kimi Räikkönen derweil will seine Einschätzung erst mit realem Asphalt unter dem Auto abgeben. "Ich weiß nicht recht, was ich erwarten soll. Ich habe nur das Layout der Strecke in Baku im Simulator gesehen. Aber ich bin sicher, dass es ein ziemlich schwieriger Kurs wird", so des Icemans Statement.

Die Prognose: Zweifelhafte Siegchance

  • 2,2 km-Gerade: Power-Vorteil gegen Red Bull
  • Aber weiter klarer Nachteil gegen Mercedes
  • Vettel Stadtkurs-Fan, Räikkönen weniger

Motorsport-Magazin.com meint: Langsam wird es müßig: Erneut kann man nur feststellen, dass Ferrari durchaus über Siegchancen verfügt. Doch muss die Scuderia diese endlich nutzen. Insbesondere, wenn Mercedes Ferrari - durch schlechte Starts, Kollisionen oder was auch immer - mal wieder Steilvorlagen liefert, muss die Scuderia auch da sein und nicht ihrerseits mit kollosalen Fehlern antworten.

Rein rational gesehen wird Ferrari in Baku bei einem normalen Wochenende jedenfalls auf leichte Schwächeanfälle Mercedes' angewiesen sein. Auf so einer langen Geraden haben die Power-Unit-Wunder der Silberpfeile einfach zu viel mehr zu bieten. Red Bull dürfte Ferrari aber im Griff haben - wenn auch nicht nebenbei. (Jonas Fehling)