Was wurde Nico Rosberg hochgejubelt. Nach seiner Siegesserie zum Saisonstart galt der Mercedes-Pilot für manch einen Beobachter der Szene bereits als kommender Weltmeister der Formel 1. Was folgte, war Ernüchterung, ja, die völlige Umkehr. Nur 16 Punkte erzielte der WM-Spitzenreiter in den vergangenen drei Grands Prix. Sein Teamkollege und schärfster Konkurrent, Lewis Hamilton, hingegen sammelte durch zwei Siege 50 Zähler.

Damit ist der Abstand der Silberpfeil-Piloten in der WM von satten 43 auf magere neun Punkte geschmolzen - in einer Geschwindigkeit, die sich selbst Weltmeister Hamilton in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte. Ebenso rasend schnell hofft dagegen Rosberg, nun die Trendwende einzuleiten. Doch auch in Aserbaidschan bleibt der Teamkollege nicht der einzige Gegner.

Das letzte Rennen: Von Glück, Cleverness & Pech

Was ein Rennen in Montreal. Gerade für Mercedes entpuppte sich der Kanada GP als regelrechtes Wechselbad der Gefühle. Erst die reine Startreihe eins trotz ordentlich Druck von Ferrari. Dann der völlig verpatzte Start, bei dem sich Sebastian Vettel nicht nur an beiden Silberpfeilen vorbeikatapultierte, sondern Rosberg durch eine leichte teaminterne Berührung sogar bis ans Ende der Top-10 druchgereicht wurde.

Damit nicht genug: Während vorne Hamilton von einer verpatzten Ferrari-Strategie - aber gleichzeitig cleverer Mercedes-Taktik - profitierte und am Ende souverän seinen zweiten Sieg in Folge einfuhr, hatte Rosberg seine liebe Müh', sich aus dem Mittelfeld zurückzukämpfen. Dirty Air, Spritverbrauch und überlastete Bremsen erschwerten die Aufholjagd extrem. Noch dazu erlitt Rosberg einen schleichenden Plattfuß, musst einen unplanmäßigen zweiten Stopp einlegen. Mit Rang fünf unter dem Strich betrieb der Deutsche allenfalls Schadensbegrenzung.

Die Neuerungen: Neue Strecke, altes Glück?

Viel Zeit bleibt den F1-Teams in den paar Tagen zwischen Kanada und Baku nicht, um etwaige Wunden zu lecken oder sogar großartige Neuentwicklungen an den Start zu bringen. Bei Mercedes ohnehin nicht zwingend nötig, bewies Kanada doch nur, dass die Konkurrenz zwar wieder einen Schritt näher gerückt ist, aber noch immer nicht ganz auf Augenhöhe rangiert. Nico Rosberg nutzte die Mini-Pause zwischen den Back-to-back-GP daher insbesondere zum Durchatmen bei der Familie. Resetten, um zurückzuschlagen, an den starken Saisonstart anzuknüpfen.

Denn der (Noch?)-Spitzenreiter weiss genau: "Jedes noch so kleine Detail kann an diesem Wochenende den Unterschied ausmachen!" Immerhin ist die Strecke für alle Neuland. Aber auch die Location an sich. Ein wenig Baku-Flair will Rosberg trotz allen Fokus auf das Sportliche dann doch mitnehmen. "Ich bin gespannt darauf, eine neue Strecke und eine neue Stadt kennen zu lernen", sagt Rosberg.

Dennoch geht natürlich der Wettkämpfer in Rosberg vor. Und der erwartet eine schwere Aufgabe. "Dort erwartet uns eine riesige Herausforderung. Es ist eine komplett neue Strecke und obendrein ein Stadtkurs. Das macht es noch schwieriger. Natürlich habe ich mich im Simulator darauf vorbereitet. So konnte ich ein Gefühl dafür bekommen, was mich erwartet, und den Streckenverlauf lernen", beschreibt Rosberg seine Vorbereitung.

Aber noch einmal zurück zu den so wichtigen Details: Wenn Mercedes etwas verbessern muss, dann die Starts. "Unsere Leistung in der Box, am Kommandostand und während der Stopps war am vergangenen Wochenende fehlerfrei. Trotzdem gibt es noch Bereiche, in denen wir uns steigern müssen. Die Starts sind ein Paradebeispiel dafür. Wir hatten in dieser Saison einige großartige Starts, aber auch einige nicht so gute. Das müssen wir uns genau anschauen und verstehen", fordert Motorsportchef Toto Wolff.

Paddy Lowe nennt einen zweiten wichtigen Faktor: das Klima. "Nach einem erfreulichen, aber recht kühlen Wochenende in Kanada reisen wir in wärmere Regionen nach Aserbaidschan. Die dortigen 30 Grad werden ein schöner Kontrast zu den 12 Grad, die es am letzten Sonntag während des Rennens an der Boxenmauer hatte!", witzelt der Mercedes-Technikchef. "An diesem Wochenende treffen die hohen Temperaturen auf eine Low-Downforce-Strecke, frischen Asphalt und die große Unbekannte eines neuen Austragungsortes. Uns erwartet also ganz sicher ein aufregendes Wochenende!"

Die Erwartungen: Rosberg lechzt nach Saisonsieg fünf

Den alten Rosberg, den Rosberg, der im Zweifel zurücksteckt, gibt es nicht mehr. Da waren sich viele Experten nach der saisonübergreifend unheimlichen Siegesserie des Deutschen sicher. Doch zuletzt rückten manche Insider von dieser neuen Meinung wieder ab: In Spanien knallte Rosberg noch die Tür zu, sodass es gar zur Kollision mit Hamilton kam, doch in Monaco winkte er den Briten teamdienlich vorbei, in Kanada zog er im direkten Duell in Kurve eins erstmals 2016 wieder den Kürzeren. Der Teamplayer in Rosberg schien die Oberhand zu gewinnen, der knallharte 'Drecksack' - für viele eine für Weltmeister zwingend nötige Eigenschaft - wieder verschwunden zu sein.

Rosberg selbst will davon jedoch gar nichts wissen. Schon direkt nach dem Rennen in Kanada sagte er, er müsse einfach wieder sicherstellen, schon vor Kurve eins in der besseren Ausgangslage zu sein, sprich auf Pole zu stehen. Im Vorfeld des Premierenrennens in Baku legt der Deutsche noch einmal nach. "Kanada lief leider nicht nach Plan. Aber das passiert eben manchmal, wenn man ans Limit geht. Ich werde meine Herangehensweise deswegen sicher nicht ändern oder gar zurückstecken. Ich möchte den WM-Kampf für mich entscheiden, nicht nur Zweiter werden", stellt Rosberg klar.

Hamilton kontert mit einer Aussage, wie er sie ganz ähnlich bereits nach dem Kanada-Qualifying formuliert hatte. "Selbst wenn es nicht perfekt läuft, liefern wir Resultate ab. Das ist für uns alle ein riesiger Schub fürs Selbstbewusstsein", sagt der Weltmeister. Insgesamt laufe es zudem deutlich runder als zu Saisonbeginn. Dennoch drückt die Konkurrenz. "Ferrari und Red Bull sind sehr nah an unserer Pace dran", warnt Rosberg. "Aber hoffentlich kann ich hier nach einigen harten Rennen wieder ganz oben stehen."

Sorgen und Hoffnungen, die Toto Wollf zu 100 Prozent teilt. "Der Speed von Ferrari und Red Bull ist ziemlich genau auf unserem Niveau. Das hat das Duell zwischen Nico und Max gegen Rennende gezeigt", sagt der Motorsportchef. Deshalb erwartet Wolff in Baku, aber auch generell immer größere Prüfungen für die Silberpfeile. "Die Performance der Teams nähert sich immer weiter an. Das ist normalerweise die Folge eines stabilen Reglements und das macht den Wettbewerb härter denn je", sagt Wolff. Paddy Lowe scheint sich daher zumindest in Baku schon mit einem Racing-Festival für die Fans arragieren zu können: "Wir freuen uns sehr auf das Wochenende und hoffen, dass wir beim ersten Grand Prix in Aserbaidschan eine großartige Show abliefern können!"

Die Prognose: Großer Vorteil in Baku

  • Ultra-lange Gerade (2,2 km) Power-Paradies für Mercedes-Antrieb
  • Red Bull erwartet 1,2 Sek. Nachteil allein deshalb
  • Ferrari daher vielleicht einziger Gegner
  • Rosberg und Hamilton auf Stadtkursen generell stark
  • Viele Unbekannte als Risikofaktor: Lotterie?

Motorsport-Magazin.com meint: Die Zeit des Zurücklehnens scheint endgültig vorbei. Mercedes kann sich nicht länger auf einen extrem großen Vorsprung verlassen. Selbst Motoraufdrehen im Qualifying sorgt nicht mehr für einen Vorsprung im Bereich einer halben Sekunde und aufwärts. Ferrari und Red Bull sind inzwischen dran. Nicht ganz auf Augenhöhe, aber doch sehr in Schlagdistanz, dass sich kleinste Silberpfeil-Fehler ab sofort bitter rächen können. Zumindest wenn es die Konkurrenz zusammen bekommt. Auch in Baku wird es also wieder eng an der Spitze. Aufgrund der superlangen Geraden hat Mercedes aber doch wieder ein ganz spezielles Ass im Ärmel und bleibt Favorit Nummer eins. (Jonas Fehling)