Donnerstagabend im Fahrerlager von Mexiko: Nach all den Diskussionen um das Virtuelle Safety-Car will es Motorsport-Magazin.com genau wissen: Warum gibt es immer wieder Ärger darüber, wie sich manche Piloten beim eigentlich eingefrorenen Rennen Vorteile verschaffen können? Herbie Blash, stellvertretender Renndirektor, setzt gerade zur Erklärung an, als Ferrari Teammanager Massimo Rivola hinzustößt. Auch er will mit Blash über das leidige Thema sprechen.

"Frag doch ihn, er weiß es sogar besser als ich", meint Blash. Rivola lehnt ab: "Ich darf nicht zu den Medien sprechen." Also beginnt Blash wieder. Nach kurzer Zeit und einer Nachfrage gerät er ins Stocken: "Frag morgen nochmal nach dem Fahrerbriefing, da sollten wir dann Klarheit haben."

Auch bei den Fahrern gibt es große Unklarheiten, wie genau die Regeln beim VSC aussehen. "Um ehrlich zu sein: Wenn du mich fragst, ob ich es zu 100 Prozent verstehe: nein! Aber vielleicht versteht es niemand zu 100 Prozent. Ich weiß nicht, ob es die FIA versteht - vielleicht ja", sagte uns Felipe Massa.

Die meisten Piloten halten sich einfach an ihre Delta-Zeiten, die auf dem Lenkrad-Display erscheinen und aus. Für sie besteht deshalb auch kein Redebedarf. Fuchs Alonso gab sich schon etwas kryptischer: "Wir müssen uns hinsetzen und mit dem Renndirektor schauen, welche kleinen Änderungen nötig sind. Es ist das gleiche für alle und wie immer bei den Regeln: Man muss zur Stelle sein, fokussiert sein - und clever."

Das Virtuelle Safety-Car sorgt für Verwirrung bei den Fahrern, Foto: Sutton
Das Virtuelle Safety-Car sorgt für Verwirrung bei den Fahrern, Foto: Sutton

Man kann also das Virtuelle Safety-Car zu seinem Vorteil nutzen. Wie funktioniert das? Um die Streckenposten bei ihrer Arbeit nicht zu gefährden, ist eine Rundenzeit vorgegeben, die nicht unterschritten werden darf. Diese berechnet sich aus den durchschnittlichen Zeiten aus FP2. Auf diese Zeit werde 45 Prozent draufgerechnet.

Es geht aber nicht um die Rundenzeit. Das wäre viel zu ungenau. Vielmehr wird ein Profil vorgegeben, das nicht unterboten werden darf. Dafür ist die Rennstrecke in 200 Meter lange Marshall-Sektoren eingeteilt. Die Piloten dürfen die vorgeschriebene Zeit nicht über einen kompletten solchen Sektor unterbieten, sonst gibt es eine Strafe. Fährt man mit einem Minus in den Sektor hinein, hat man bis zum Ende des Sektors Zeit, daraus noch ein Plus zu machen.

Das Spiel mit der Delta-Zeit

Nach unten ist die Grenze festgesteckt - nach oben allerdings nicht. Und das führt dazu, dass manche Piloten unnötig langsam fahren. Warum? Unter VSC darf nicht überholt werden. Außer ein Fahrzeug fährt beispielsweise wegen eines technischen Defekts langsam. Allerdings muss es dafür extrem langsam fahren. "Wir würden unsere Fahrer nicht einfach so überholen lassen. Erst muss er uns fragen, wir fragen Charlie und erst wenn das Okay von ihm kommt, darf er überholen", sagt Sauber Teammanager Beat Zehnder.

Die Frage aber lautet: Was hat ein Fahrer davon, unnötig langsam zu fahren? Schließlich ist dann sein Vorsprung weg. Die Erklärung ist kompliziert: Man kann sich quasi ein Guthaben bei der Deltazeit erfahren. Fährt der Führende beispielsweise acht Sekunden langsamer als die Delta-Zeit, darf er diese acht Sekunden auch wieder aufholen. Das bringt ihm beim Restart einen entscheidenden Vorteil: Er braucht sich nicht mehr so sehr auf die Delta-Zeit konzentrieren, sondern kann gleich das Tempo bestimmen, während der Hintermann noch an seine Zeit gebunden ist.

Das lässt sich für den Führenden auch gut managen, da es vor dem Ende der VSC-Phase eine Mitteilung in das Cockpit gibt, dass das Virtuelle Safety-Car in 10 bis 15 Sekunden endet. Ab diesem Zeitpunkt kann er spielen, als wäre es ein Restart hinter dem echten Safety-Car - nur dass der Hintermann auf seine Delta-Zeit aufpassen muss.

Gleichzeitig bringt er das Feld dahinter dichter zusammen. Im Falle von Austin: Durch Hamiltons langsame Fahrt konnte Rosberg auf Ricciardo aufschließen und ihn anschließend sogar überholen. Drei Sekunden hat Hamilton getrödelt. Dort soll Ricciardo allerdings keine Mitteilung über das Ende der VSC-Phase bekommen haben. Doppelt bitter.

Ricciardo wurde nach einer VSC-Phase von Rosberg überrumpelt, Foto: Sutton
Ricciardo wurde nach einer VSC-Phase von Rosberg überrumpelt, Foto: Sutton

Dieses Taktieren ist möglich, weil die Delta-Zeit während der gesamten VSC-Phase nicht genullt wird. Fährt Fahrer A im ersten Sektor nach VSC-Bedingungen fünf Sekunden langsamer als er müsste, kann er sich diese fünf Sekunden irgendwann während der VSC-Phase wieder holen.

Würde nach jedem Sektor genullt werden, gäbe es dieses Problem nicht. "Aber die FIA wollte das nicht, weil sich die Fahrer dann zu sehr auf das Display konzentrieren würden", erklärt Zehnder. Auch bei einem Nullen einmal pro Runde wäre das Problem größtenteils weg. "Aber manchmal dauert die Phase nicht einmal eine Runde, deshalb kann man das schlecht machen."

Auch beim Boxenstopp kann man profitieren: Zwischen den beiden Safety-Car-Linien gilt die Delta-Zeit nicht. Fährt der Führende an die Box, kann er zunächst langsam machen, dann ab der Safety-Car-Linie plötzlich anziehen. Auch am Boxenausgang kann er bis zur zweiten Safety-Car-Linie wieder Vollgas fahren. Anschließend beträgt sein Delta-Guthaben noch so viel, wie vor der ersten Safety-Car-Linie. Diesen Trick wandte Lewis Hamilton beim Malaysia GP an.

Allerdings gibt es auch Grenzen: Fährt ein Pilot absichtlich zu langsam, kann die FIA einschreiten und ihn aufgrund gefährlichen Fahrens bestrafen. Mit einer Obergrenze ließe sich dieses Problem vermeiden.