In der Ferrari-Box gibt es kein Halten mehr, grenzenloser Jubel, es wird geschrien und man liegt sich in den Armen. Felipe Massa hat soeben die Ziellinie überquert und ist Weltmeister - zumindest glaubt man das bei Ferrari. Inmitten des Trubels geht unter, dass Lewis Hamilton sich in der letzten Kurve noch um einen Platz verbessern kann. Er wird damit Fünfter statt Sechster, holt vier statt drei Punkte, hat in der Endabrechnung dadurch 98 statt 97 Punkte und liegt damit genau einen Punkt vor Felipe Massa. Das Gesicht von Felipe Massas Vater Luiz Antonio steht stellvertretend für die Fassungslosigkeit, als diese Erkenntnis die Ferrari-Box erreicht. Gejubelt wird nun in der Box bei McLaren.

Lewis Hamilton reist mit sieben Punkten Vorsprung auf Felipe Massa zum Saisonfinale nach Sao Paulo. Den gleichen Vorsprung an Punkten hatte Hamilton bereits ein Jahr zuvor beim Titelfinale auf Ferrari-Pilot Kimi Raikkönen - und verlor den Titel dennoch. Das Titeltrauma von 2007 ist für Hamilton in Sao Paulo wieder allgegenwärtig, befeuert vor allem von den Brasilianern. Mit Felipa Massa kann sich erstmals seit Ayrton Senna wieder einer ihrer Landsmänner zum Formel-1-Champion küren und das ausgerechnet beim Brasilien Grand Prix. Ein Land im Ausnahmezustand.

Regen bleibt 2008 ständiger Begleiter des Rennens in Sao Paulo, Foto: Sutton
Regen bleibt 2008 ständiger Begleiter des Rennens in Sao Paulo, Foto: Sutton

Das einfachste Szenario für Massa vor dem Rennen: Er muss gewinnen und Hamilton bestenfalls Sechster werden. Im Qualifying setzt der Ferrari-Pilot das erste Ausrufezeichen und sichert sich überlegen die Pole Position. Hamilton wird hinter Jarno Trulli und Massas Teamkollegen Kimi Raikkönen nur vierter.

Am Rennsonntag bricht dann das große Chaos schon vor dem Start aus. Der Himmel öffnet seine Schleusen über der Rennstrecke. Der Start muss um zehn Minuten verschoben werden, da ein Fahren unter dem Umständen nicht möglich ist. Als der Grand Prix endlich beginnt, gewinnt Massa den Start, Hamilton bleibt Vierter. In Runde 10 ist die Strecke fast abgetrocknet und die ersten Fahrer entscheiden sich, zurück auf Trocken-Reifen zu wechseln.

Massa bleibt nach dem ersten Boxen-Reigen vorne, Hamilton verliert allerdings zwei Plätze an den Toro Rosso von Sebastian Vettel und dem eigentlich unterlegenden Force India von Giancarlo Fisichella. Der sechste Platz reicht dem Briten nicht, da bei Punktgleichheit die WM an Massa wegen der höheren Anzahl an Siegen geht. Vier Runden benötigt Hamilton, um an Fisichella vorbei zu kommen und liegt damit wieder auf WM-Kurs.

Hamilton wird Weltmeister in einem turbulenten Finale, Foto: Sutton
Hamilton wird Weltmeister in einem turbulenten Finale, Foto: Sutton

Im Anschluss passiert lange nicht, auch in der zweiten Boxenstoppphase gibt es keine relevanten Verschiebungen. In die letzten sieben Runden geht Massa mit einem komfortablen Vorsprung auf Alonso und Raikkönen. Doch solange Hamilton auf Platz vier liegt, ist Massas Sieg wertlos. Gegen Ende des Rennes fängt es jedoch abermals über Sao Paulo an zu tröpfeln und beschert der Formel 1 einer der chaotischsten und denkwürdigsten Finals aller Zeiten. Der Regen ist nicht stark, trotzdem holen fast alle Teams ihre Fahrer zum Wechsel auf Intermediates rein - alle, bis auf Toyota.

Vor allem Timo Glock spült das im Klassement nach vorne und nach den Stopps liegt der Deutsche plötzlich auf Rang vier, noch vor Hamilton. Das Bangen beginnt an McLaren Kommandostand, denn Hamilton darf keinen weiteren Platz einbüßen. Vettel befindet sich allerdings in Schlagdistanz zum Briten und zwei Runden vor Ende passiert das, was aus Sicht des Briten nicht passieren durfte: Vettel überholt ihn. Hamilton ist Sechster und der Titel ist plötzlich ganz weit weg. Blankes Entsetzen an der McLaren-Box. Das brasilianische Publikum dagegen rastet völlig aus, ihr Landsmann Massa scheint auf dem besten Weg zur Weltmeisterschaft - der Ersten für einen Brasilianer seit 1991.

Gewonnen und doch verloren: Felipe Massa, Foto: Sutton
Gewonnen und doch verloren: Felipe Massa, Foto: Sutton

Hamilton geht auch in die letzte Runde als Sechster, jedoch kaum nahe genug an Vettel um ihn von dem Fünften Platz zu verdrängen. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Massa überquert die Ziellinie und gewinnt das Rennen und auf den Rängen gibt es kein Halten mehr. In den Jubelarien geht unter, dass Timo Glock auf Platz vier mit falschen Reifen sich kaum auf der Strecke halten kann, 20 Sekunden im letzten Umlauf auf Hamilton verliert und machtlos ist, als Vettel und der Brite in der letzten Kurve noch an am Toyota vorbeiziehen. Hamilton ist wieder fünfter, Hamilton ist Weltmeister!

Im Ziel kennt die Freude beim McLaren-Piloten keine Grenzen. Ein solches Finale geht an die Substanz, bei Siegern und Verlierern. Hamilton hat sein Finaltrauma von 2007 überwunden, Massa dagegen erlebt seines ganz aktuell. 39 Sekunden lang fühlt er sich als Weltmeister, bevor er mitgeteilt bekommt, dass er es doch nicht ist. Die Tränen kann er nicht zurückhalten, erst recht nicht, als er das in der Abenddämmerung von Sao Paulo das Podium betritt und von den Tausenden Brasilianer - trotz seiner Niederlage - frenetisch gefeiert wird.

Hamilton feiert ausgelassen seinen WM-Triumph, Foto: Sutton
Hamilton feiert ausgelassen seinen WM-Triumph, Foto: Sutton

Emotionen auf dem Podium und in der Boxengasse. Umschlungen von einer britischen Flagge lässt sich Hamilton von seinem Team feiern. Er kürt sich sprichwörtlich auf den letzten Metern zum Weltmeister. Mit 23 Jahren ist er zu jenem Zeitpunkt der jüngsten Champion der Formel-1-Geschichte - bis Sebastian Vettel bei seinem Triumph 2010 noch jünger ist.

Felipe Massa kommt nach der Saison 2008 nie wieder in die Nähe des WM-Titels. In den kommenden Jahren steht er im Schatten seines Teamkollegen Fernando Alonso und muss Ende 2013 die Scuderia Ferrari nach acht Jahren verlassen. Der Sieg 2008 in Sao Paulo ist sein bislang Letzter.

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