Tiefe Stimme, dichter Bartwuchs, große Brillengläser. Ross Brawn gehörte mehr als zwei Jahrzehnte lang zum Inventar des Fahrerlagers. Ein Kommandostand ohne das Superhirn? Für langjährige Formel-1-Fans irgendwie unvorstellbar. Und doch lenkt der große Bär nicht mehr die Geschicke des Silberpfeil-Teams. Paddy Lowe und Toto Wolff haben seit diesem Jahr das Sternen-Steuer fest in ihren Händen. Aber vermissen sie den Einfluss von Brawn?

"Alles, was ich dazu sage, ist falsch", betont Wolff lachend. Jede Antwortmöglichkeit könnte ihm von der Journalistenschar falsch ausgelegt werden. Natürlich lobt er seinen Kompagnon Paddy Lowe, der super Arbeit leiste. Schließlich ist es keine einfache Aufgabe, in Ross Brawns Fußstapfen zu treten. Mit jeder anderen Aussage könnte sich Wolff jedoch schnell die Finger verbrennen. "Wenn ich sage: Es fällt nicht auf, ist das eine Frechheit. Wenn ich sage, er fehlt uns, ist das vielleicht nicht ganz so, wie es wirklich ist..."

Fakt ist: Brawn war Teamchef. Ein Organisator. Ein Mann mit Erfahrung. "Ross hat nicht die Strategieentscheidungen getroffen", widerlegt Wolff eine gängige Meinung, die noch auf Brawns früherer Rolle als 'Ferrari-Superhirn' von Michael Schumacher beruht.

"Wir haben eine ganze Strategieabteilung, die angeführt wird von James Vowles", erklärt Wolff. Vowles wiederum habe weitere Ingenieure an der Strecke und in der Fabrik, die ebenfalls zur Strategie beitragen. "James macht seit vielen Jahren die Strategien für uns", so Wolff. Genauso hat das Team leitende Ingenieure für die Systeme und die Rennabläufe.

"Die Rolle von Ross oder jetzt Paddy ist eine überwachende Tätigkeit, damit ein Zahnrad ins andere greift", erklärt Wolff weiter. "Da sitzt nicht nur ein Superhirn, wie es Ross immer nachgesagt wurde. Dafür ist die Formel 1 zu komplex geworden. Wir haben zehntausende Simulationen, die in das Computerprogramm hineinlaufen. Die Ergebnisse werden dann analysiert und Entscheidungen getroffen."

Strategie-Exkurs: Wie wird entschieden?

Die Strategieentscheidungen fallen nicht nur am Kommandostand, Foto: Sutton
Die Strategieentscheidungen fallen nicht nur am Kommandostand, Foto: Sutton

Bereits am Dienstag oder Mittwoch vor dem Rennwochenende stehen die ersten Strategieüberlegungen. Als Grundlage dienen Erfahrungswerte aus den Vorjahren sowie Computerberechnungen mit Daten aus dem Simulator. "Mit der Hilfe unserer Software erstellen wir über 100.000 verschiedene Rennszenarien, bevor sich überhaupt ein Rad an der Strecke gedreht hat", erklärt Mercedes-Chefstratege James Vowles.

Diese Szenarien berücksichtigten alle denkbaren Variablen für jeden Aspekt eines Rennens - von der Leistung der Gegner über jene der eigenen Boxencrew bis zu den Fähigkeiten der Fahrer. Ist ein Pilot ein Regenspezialist oder Reifenflüsterer? Die Software rechnet es mit ein.

Voraussicht ist das A und O der Strategiewelt. "Im Durchschnitt reagieren wir innerhalb von fünf Sekunden auf einen Zwischenfall", sagt Vowles. Schon im Vorfeld bereitet er Szenarien für einen unplanmäßigen, frühen Boxenstopp, etwa um einen Reifen oder Frontflügel zu wechseln, oder eine Safety-Car-Phase vor, um jederzeit einen Plan B in der Hinterhand zu haben.

Aber wie kann das Team aus über 100.000 Strategien binnen fünf Sekunden die richtige auswählen? "Wir verlassen uns sehr stark auf unsere Software", erklärt Vowles. Von den Szenarien werden viele bereits nach dem Start aussortiert. "Manchmal braucht man natürlich auch etwas Glück", gibt Vowles zu. In der Formel 1 gilt: "Sich nicht vorzubereiten, bedeutet, einen Fehlschlag vorzubereiten."