Wie einschneidend sind die technischen Regeländerungen in der Saison 2014 wirklich?
Paddy Lowe: In der Saison 2014 erleben wir wahrscheinlich die größten Regeländerungen in der Geschichte der Formel 1. Das Hauptthema lautet "Effizienz". Die Tatsache, dass wir ein gesamtes Rennen mit 100 kg statt 150 kg an Sprit bestreiten können, verbreitet ein großartiges Bild über die Technologien, die wir in der Formel 1 entwickeln können - gleichzeitig sendet es eine wichtige Nachricht an die Automobilindustrie im Allgemeinen. Es geht nicht einfach nur um die Benzinmenge, die wir pro Auto an einem Sonntagnachmittag einsparen können, sondern um die Technologie an sich. In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, wie relativ kleine Dinge ihren Weg in die Straßenproduktion gefunden haben, nicht nur mit Blick auf die Autos selbst, sondern auch im Hinblick darauf, was als attraktiv angesehen wird. Wir sind Teil dieser Welt und genau darum sollte es in der Formel 1 gehen. Dies ist eine großartige Gelegenheit für Mercedes-Benz und Petronas, dieses Reglement anzunehmen und zu zeigen, dass wir uns besser schlagen können als unsere Mitbewerber. Die kommenden Wochen werden zeigen, wie gut uns das gelungen ist.

Wie sehr musste sich die Chassis-Mannschaft an die neue Power Unit anpassen?
Paddy Lowe: Die Power Unit hat eine gänzlich andere Form und komplett andere Anforderungen als ihr Vorgänger. Es ist die größte Veränderung in der Formel 1 seit vielen Jahren. Es müssen viel mehr Komponenten gekühlt werden - mehr Hybrid-Systeme sowie der Ladeluftkühler des Turboladers. Beides wirkt sich auf die Kompaktheit des Autos sowie dessen Aerodynamik aus. Eine weitere Herausforderung ist das Gewicht. Obwohl das Mindestgewicht auf 691 kg angehoben wurde, ist dies viel schwieriger zu erreichen als im vergangenen Jahr. Der Grund dafür sind die zusätzlichen Komponenten in der Power Unit und die damit verbundenen Systeme, die erhöhten Kühlungsanforderungen und die neuen, stärkeren Seitenaufprallstrukturen, die von der FIA vorgeschrieben wurden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die thermische Herausforderung. Durch die Einführung eines Turboladers wird der Umgang mit der Hitze rund um das Auspuffsystem sowohl mit Blick auf die Fahrzeugintegrität als auch die Performance entscheidend. Wenn es gelingt, Verluste zwischen dem Motorblock und dem Turbo zu minimieren, kann diese Energie wiedergewonnen und für die Fahrzeugperformance genutzt werden. Die große Herausforderung sind die Isolierung und der Umgang mit der Hitze, und zwar sowohl aus Integritäts- als auch Performancegründen.

Welchen Einfluss hatten die verstärkten Anforderungen für die Energierückgewinnung auf das Chassis-Team?
Paddy Lowe: Im Vergleich zu den bisherigen KERS-Systemen steht uns die doppelte Menge an kinetischer Energie zur Verfügung, die wir an der Hinterachse zurückgewinnen dürfen. Das bedeutet, dass die Belastung der hinteren Bremsen und damit die erzeugte Hitze viel geringer sein werden. Die Energie wird durch automatische Systeme zurückgewonnen. Um eine fahrbare Bremsbalance zu erhalten, dürfen die Hinterradbremsen elektronisch kontrolliert werden. Hierzu haben wir ein "brake-by-wire"-System für die Hinterräder entwickelt. Sobald der Fahrer auf das Pedal tritt, steuert das System gemeinsam den hinteren Bremskreislauf und die Anforderungen der Energierückgewinnung. Auf diese Weise erfüllen die gesamte Bremskraft an der Hinterachse und die Bremsbalance von Vorder- zu Hinterachse die Anforderungen des Fahrers. Der wichtigste Faktor bei einem "brake-by-wire"-System ist das Fehlermanagement. Es ist ein sicherheitsrelevantes System und ein Großteil unserer Arbeit konzentrierte sich darauf, eine funktionierende Ausfallkontrolle zu gewährleisten.

Mit Blick auf die Power Unit wurde häufig über die Zuverlässigkeit gesprochen. Verursacht dies besondere Herausforderungen auf der Chassis-Seite?
Paddy Lowe: Wir müssen neue Haltbarkeitsziele erfüllen, vor allem in Bezug auf das Getriebe. Dieses besteht aus einem komplett neuen Design: Es besitzt nun acht Gänge, die niedrigere Drehzahl des Motors führt zu einer neuen Situation der Untersetzung, es besteht deutlich mehr Drehmoment und die Getriebeübersetzungen müssen für die gesamte Saison festgelegt werden. Somit werden wir nicht nur durch die neuen Funktionsweisen voll gefordert, sondern auch bei der Haltbarkeit. Bislang haben wir die Getriebeübersetzungen an jedem Wochenende neu optimiert. Die neue PU besitzt jedoch ein breites Band an nutzbaren Drehzahlen, weshalb die Wahl der Übersetzung nicht mehr so kritisch ist wie in der Vergangenheit. Die schwierigere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Übersetzungen sechs Rennen statt nur einem halten - das gilt für das gesamte Getriebesystem, das nun bei sechs statt wie bislang fünf Rennen eingesetzt werden muss.

In dieser Saison wurde auch das aerodynamische Reglement stark überarbeitet...
Paddy Lowe: Die aerodynamischen Veränderungen sind wahrscheinlich genauso einschneidend wie die Änderungen zu Beginn der Saison 2009. Im Wesentlichen gibt es drei Hauptelemente. Zunächst wurde der Frontflügel verschmälert - das hat einen wesentlichen Einfluss auf das Strömungsfeld des Autos, dessen erster Bestimmungspunkt der Luftfluss hinter dem Frontflügel ist. Der zweite Punkt ist der Verlust des "Exhaust Blowing" am Heck des Autos, das in den vergangenen drei Jahren einen sehr großen Einfluss auf die Fahrzeugperformance hatte. Es war eine große Herausforderung, die gleiche Fahrbarkeit, die beim Beschleunigen am Kurvenausgang sehr stark war, mit nur einem zentralen Auspuffauslass zu erzielen. Schlussendlich wurde auch der Heckflügel verändert: Der untere Heckflügel wurde entfernt und die "Legalitäts-Box" für den oberen Heckflügel um 10 Prozent von 220 mm auf 200 mm verkleinert. Bislang funktionierten der Unterboden sowie der untere und obere Heckflügel am Heck des Autos als ein Ganzes. Das hat sich nun geändert und stellt uns vor eine neue Aufgabe. Allgemein betrachtet müssen wir ungefähr den gleichen Flügeltyp einsetzen, den wir bisher bei einer Konfiguration mit wenig Luftwiderstand wie in Spa gefahren hätten. Dies führt zu geringeren Kurvengeschwindigkeiten, aber auch zu höheren Geschwindigkeiten auf den Geraden.

Das Sportliche Reglement beinhaltet auch Einschränkungen bei der Nutzung des Windkanals. Können Sie diese bitte erklären?
Paddy Lowe: Die Nutzung des Windkanals und von Computational Fluid Dynamics (CFD) wird von den Teams bereits seit einigen Jahren kontrolliert, aber in dieser Saison ist dies auch im Sportlichen Reglement verankert und wird von der FIA überwacht. Des Weiteren wurde die Anzahl der erlaubten Tests stark eingeschränkt, um damit die Kosten zu senken: Die Windauslastung wird auf 60 Stunden pro Woche beschränkt. Außerdem dürfen wir nur 80 Windkanal-Tests pro Woche durchführen, die Tauschmöglichkeit zwischen Windkanal- und CFD-Nutzung wurde weiter limitiert und wir haben die Möglichkeit verloren, maßstabsgetreue Aerodynamiktests im Windkanal oder auf Landebahnen durchzuführen. Insgesamt bedeutet dies eine Verringerung der aerodynamischen Testmöglichkeiten um rund zwei Drittel.

Wie zufrieden sind Sie mit dem F1 W05 mit Blick auf das neue Reglement?
Paddy Lowe: Das Team hat in jedem Bereich des Projekts fantastische Arbeit geleistet. Wir haben unsere Meilensteine und internen Ziele alle erreicht. Das Auto ist eine elegante Antwort auf die neuen Regeln, stellt aber auch ein aggressives Design dar, dessen Schönheit nicht nur oberflächlich ist, auch das Innere ist äußerst innovativ und intelligent. Ich bin sehr stolz auf die Arbeit, die bislang in dieses Projekt investiert wurde - dafür gebührt Bob Bell, Aldo Costa, Geoff Willis, Rob Thomas und der Ingenieurs-Mannschaft viel Respekt. Aber natürlich ist jedem Einzelnen genau bewusst, wie viel Arbeit im Verlauf der Saison noch vor uns liegt. Es geht gerade erst los!

Wie entscheidend wird die Weiterentwicklung während der Saison in diesem Jahr sein?
Paddy Lowe: Die Formel 1 ist stets ein Entwicklungsrennen. Das Team, das den größten Rundenzeitgewinn aus den neuen Windkanal-Einschränkungen herausholen kann, wird dafür belohnt werden, besonders zu Beginn eines neuen Reglements, wenn die Entwicklungskurve am steilsten ist. Aber es dreht sich dabei nicht alles nur um die Aerodynamik: Aufgrund der Benzin-Vorschriften ist die Herausforderung der Effizienz wahrscheinlich die größte von allen. An diesem Punkt kann und wird unsere Partnerschaft mit Petronas einen entscheidenden Unterschied ausmachen. Natürlich dürfen wir aber auch die Zuverlässigkeit nicht vergessen. Wir betreten mit einer Vielzahl an Technologien in diesem Auto Neuland, aber das bringt uns nur wenig, wenn wir nicht bei jedem Rennen die Zielflagge sehen. Wir kämpfen in diesem Jahr an allen Fronten, um die Herausforderungen im technischen Bereich als auch bei der Zuverlässigkeit zu bestehen. Genau darum sollte es in der Formel 1 gehen: Die Entwicklung und Auslotung innovativer Technologien auf die aggressivste und ehrgeizigste Art und Weise.