Ende dieses Monats blickt die Motorsportwelt mit großer Spannung nach Jerez. Auf der spanischen Strecke steigen vom 28. bis 31. Januar die ersten Testfahrten der neuen Formel-1-Saison. Doch ein Team fehlt definitiv: Lotus. Die Truppe aus Enstone verkündete am Montag, dass der E22-Bolide sein Streckendebüt erst beim zweiten Test Mitte Februar in Bahrain feiert. "Wir haben entschieden, dass die Teilnahme am Test in Jerez für unser Aufbau- und Entwicklungsprogramm nicht ideal ist", sagte Lotus-Technikchef Nick Chester. Näher ging er nicht auf die Begründung ein.

Was auf den ersten Blick als großer Nachteil im Entwicklungswettrüsten mit der Konkurrenz klingt, spielte Christian Danner nun herunter. "Das ist für mich ganz sicher kein Beinbruch. Ich sehe das weit weniger dramatisch als der eine oder andere", erklärte der Motorsport-Magazin.com-Experte. "Als Team hätte ich mit zwei erfahrenen Piloten wie Romain Grosjean und Pastor Maldonado kein Problem damit, den ersten Test in Jerez ausfallen zu lassen."

Laut Danner sei der erste von insgesamt drei Testfahrten vor der Saison nicht der entscheidende - zumindest nicht für die Teams. "Etwas kritisch ist es natürlich für die Motorenhersteller, die so viele Kilometer wie möglich während der Tests sammeln können", sagte Danner. "Renault könnte deshalb durchaus etwas dünnhäutig reagieren." Die Franzosen arbeiten mit Hochdruck an der Entwicklung des neuen Turbo-Motors, der 2014 erstmals zum Einsatz kommt. Bislang ist nur sehr wenig darüber bekannt, welche Performance die Aggregate von Renault, Mercedes und Ferrari leisten. Der allgemeine Konsens: Bis zum ersten Test in Jerez ist Rätselraten angesagt.

Ende Januar werden die Teams natürlich ganz genau hinschauen: Was hat die Konkurrenz in petto - vielleicht eine technische Wunderwaffe, die einen enormen Vorteil bringt? Das Reglement steht fest, doch wegen der Möglichkeit, Auto und Motor zusammen neu aufbauen zu können, erwarten Experten einige innovative Ansätze. Hat Lotus vielleicht etwas bei der Konstruktion des E22 entdeckt, was die Gegner noch nicht sehen sollen? "Es ist möglich, dass Lotus ein Auto gebaut hat, das in irgendeinem Teilbereich sichtbar anders konstruiert ist als bei der Konkurrenz", sagte Danner. "Vielleicht will sich Lotus deshalb nicht zu früh in die Karten schauen lassen. Ähnliches kennen wir von Adrian Newey, der mit der Aerodynamik des Red Bull ja eigentlich auch erst beim Saisonauftakt richtig herausrückt."

Gleichzeitig wollte Danner bei der Frage, aus welchem Grund Lotus den ersten Test sausen lässt, den finanziellen Faktor nicht außer Acht lassen. Danner: "Ich sage aber auch ganz klar: Es wäre Augenwischerei zu sagen, dass Geld keine Rolle spielt. Wenn Lotus 50 Millionen Euro mehr in der Kasse hätte, hätten sie das Auto höchstwahrscheinlich in einer A-Version in Jerez fahren lassen können und die B-Version, ähnlich wie Red Bull, dann später gebracht." Laut Danner komme es darauf an, wie die Teams mit ihren vorhandenen Budgets umgehen und welche Prioritäten sie dabei setzen.

"Wenn einem Team - wie Red Bull, Mercedes, Ferrari oder McLaren - ein quasi unbegrenztes Budget zur Verfügung steht, steht es in der Pflicht, das neue Auto beim ersten Test an den Start zu bringen", erklärte der frühere Formel-1-Fahrer. "Ein Team mit weniger Geld muss sich hingegen überlegen, welche Mehrkosten welchen Zugewinn bringen: Gebe ich mein Geld für die weitere Entwicklung aus, oder baue ich das Ding irgendwie rechtzeitig zum Test zusammen, nach dem Motto: Hauptsache, es rollt." Vor genau solch einer Entscheidung stünde derzeit Lotus.

Bislang ließ lediglich das ehemalige Team von Kimi Räikkönen verlauten, dass es beim ersten Test des neuen Jahres nicht antritt. Unterdessen präsentierten Mercedes (28. Januar) und McLaren (24. Januar) die Launch-Termine für ihre neuen Turbo-Boliden. Von den kleineren Teams ist bislang nichts zu hören. Danner konnte sich vorstellen, dass noch weitere Teams dem Beispiel von Lotus folgen könnten.

"Das kann ich mir gut vorstellen", sagte er über weitere Testabsagen. "Ein Team wie Marussia mit einem geringen Budget muss sich genau überlegen, ob es Sinn macht, die ganzen Ressourcen jetzt für einen Test auszugeben, der de facto für die Motorenhersteller am wichtigsten ist. Die Reifen kann man in Jerez sowieso nicht ordentlich testen, das wissen wir aus der Vergangenheit. Es handelt sich bei Jerez also um einen reinen Installations- und Funktionstest der neuen Powertrains."