Welche Erinnerungen an Sebastian Vettel sind Ihnen im Gedächtnis geblieben?
Mario Theissen: Eine Erinnerung ist an die Jahresehrung des DMSB, bei der wir einen Preis für den Aufbau des Formel-1-Teams erhalten haben. Damals war Sebastian Junior Motorsportler aus der Kartszene dieses Jahres. Die zweite Erinnerung ist an ein Formel BMW Rennen. Damals muss er 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein und zupfte mich am Hemd: "Ich bin der Sebastian und fahre nächstes Jahr bei euch mit." So ist es dann auch gekommen. Er wurde schon in seiner ersten Saison Rookie des Jahres und hat dann im Folgejahr alles abgeräumt mit 18 Siegen aus 20 Rennen, dazu ein zweiter und ein dritter Platz. Das war sehr eindrucksvoll. Damals hat man gesehen, wozu er das Zeug hat - nicht nur fahrerisch, sondern auch im Kopf.

War er damals seinen Altersgenossen ein paar Jahre voraus?
Mario Theissen: Auf jeden Fall, wobei ich das damals noch nicht überbewerten wollte. In diesem jungen Alter gibt es generell große Unterschiede, die davon abhängen, wann die Kids angefangen haben. Wer mit vier oder fünf Jahren anfängt, Kart zu fahren, ist mit 13 oder 14 natürlich ganz anders drauf, als ein Junge, der erst seit ein, zwei Jahren Kart fährt. Deswegen muss man vorsichtig sein. Bei Sebastian war aber nicht nur das fahrerische Potential vorhanden, sondern auch die mentale Reife. Er war für mich immer eine junge Parallele zu Michael Schumacher, der als erster aufgezeigt hat, dass der Job eines Rennfahrers weit über das Fahren hinausgeht.

Was heißt das genau?
Mario Theissen: Sprich: Fahrzeugeinstellung, aber vor allem die Arbeit mit dem Team, sowohl was die fachliche Arbeit mit den Ingenieuren und Mechanikern angeht, als auch das Motivieren und Mitziehen der Leute. Das war schon damals in Ansätzen bei Sebastian erkennbar; auch wie systematisch und umfassend er sich vorbereitet hat. Ich habe von ihm handgeschriebene Rennberichte gesehen, auf so eine Idee wäre kein anderer gekommen. Sebastian hat sich im Vorfeld Gedanken gemacht, was alles zu beachten ist. Er hat sich einen Tagesablauf geschmiedet für die Stunden vor dem Rennen, was in dem Alter sonst niemand gemacht hat. Das war sehr eindrucksvoll. In Verbindung mit seinem natürlichen Speed war sofort zu sehen, dass er nach ganz oben kommen könnte.

Haben Sie damals schon gewusst, dass er einmal Weltmeister werden würde?
Mario Theissen: Ich dachte mir: Er könnte einer werden. Prognosen sind in diesem Alter sehr schwierig. Die einen Fahrer sind einfach noch nicht so weit, weil sie später angefangen haben, die anderen kommen irgendwann von der Bahn ab, weil sie ihren Fokus verlieren. Bei Sebastian lief es vom ersten Tag an in der selben Richtung weiter. Er hat sich nur dafür interessiert.

Theissen erkannte früh Vettels Talent, Foto: Sutton
Theissen erkannte früh Vettels Talent, Foto: Sutton

Sebastian durfte als Meister der Formel BMW ein Formel-1-Auto testen. Erinnern Sie sich noch an diesen Test?
Mario Theissen: Daran erinnere ich mich noch gut. Ich weiß noch, wie Frank Williams skeptisch geschaut hat und meinte, Sebastian sei ja ein bisschen schmächtig. Das habe ich Sebastian dann gesagt und es hat ihn doch etwas getroffen.

War Sebastian bei seinem ersten F1-Test damals auch so gut vorbereitet oder war es doch eher wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum?
Mario Theissen: An diesem Tag war er wirklich wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum. Für ihn war es einfach die unglaubliche Erfahrung, wie weit so ein Formel-1-Auto von dem weg ist, was er bis dahin mit 130 PS kannte. Es war ein Augenöffner, wie ich ihn auch bei anderen erlebt habe, etwa bei Nico Rosberg. Bei diesen Ausfahrten ging es nicht darum, das Auto zu testen oder aller Welt etwas zu beweisen, sondern darum, zu kapieren, wie weit ist der Weg noch und wie anders und fantastisch ist das im Vergleich zu dem, was ich derzeit fahre. Es ist ein riesiger Motivationsschub. Man musste es aber vorsichtig angehen, denn sie waren bis dahin nur Autos mit 130 PS gefahren.

Hatten Sie manchmal Bedenken, wenn so ein ganz junger Fahrer im Cockpit eines F1-Autos Platz nehmen durfte?
Mario Theissen: Bei diesem Formel-1-Schnuppertest nicht. Den haben wir mit dem Team ganz sorgfältig vorbereitet. Die Fahrer hatten eine begrenzte Rundenanzahl und durften auch nur eine gewisse Zahl an Runden am Stück fahren, weil ihre Halsmuskulatur dazu noch gar nicht in der Lage war. Sie hatten auch klare Ansagen, was sie tun durften und was nicht. Hauptziel war natürlich, auf der Strecke zu bleiben - das haben alle geschafft. Sie sind in dieser Situation auch noch viel zu ergriffen, um dummes Zeug zu machen.

Hat man bei diesem Schnuppertest gemerkt, dass Sebastian damit auf Anhieb recht gut klargekommen ist?
Mario Theissen: Es war okay, aber darum ging es auch nicht. Er hat es wie die anderen gut gemacht und man hat gemerkt, dass er reinwächst und nicht überfordert ist.

Wie war der Sprung dann zu 2006, als er die ersten richtigen Testkilometer hinter sich hatte und an den Freitagen im Training mitfahren durfte?
Mario Theissen: Damals war er schon Formel 3 gefahren und aktuell in der Formel Renault unterwegs. Da war für mich schon klar, dass er sich in der Formel 1 durchsetzen würde. Davon waren noch nicht alle im Team überzeugt und es waren auch nicht alle von der Idee angetan. Die kritischen Stimmen haben damals angemerkt, dass er mit frischen Reifen und weniger Benzin gefahren ist im Vergleich zu den Stammfahrern, aber auch so war seine Leistung einfach top. Also war es für mich keine Überraschung mehr, dass er sehr bald einen Stammplatz in der Formel 1 angeboten bekam.

Hat sich Sebastian auch schnell in die technische Seite eingelebt?
Mario Theissen: Ja, er hat sich sehr intensiv mit dem Team beschäftigt und war bei der Abstimmung immer hell wach.

Damals war auch Timo Glock BMW-Testfahrer und viele Stimmen hätten ihn lieber als Ersatz von Robert Kubica in Indianapolis im Auto gesehen. Haben Sie das damals entschieden?
Mario Theissen: Klar. Sie meinten, Timo sei schon einmal Formel 1 gefahren, aber Sebastian hat die Aufgabe ordentlich gelöst. Er hat einen Fehler am Start gemacht und dadurch ein paar Plätze verloren. Am Ende hat er als Achter den letzten Punkt geholt, ansonsten wäre er vielleicht ein paar Plätze weiter vorne ins Ziel gekommen. Aber nach dem misslungenen Start war es ein absolut fehlerfreies Rennen.

Hat er an dem Wochenende einen nervösen Eindruck auf Sie gemacht?
Mario Theissen: Er war sicher nervöser als man ihn sonst gesehen hat. Er wollte natürlich nichts falsch machen und war sich natürlich auch der Einmaligkeit dieser Chance bewusst. Es war klar, dass Robert danach wieder im Auto sitzen würde.

Testfahrt in Jerez 2006, Foto: Sutton
Testfahrt in Jerez 2006, Foto: Sutton

Haben Sie Sebastian nur schweren Herzens zu Toro Rosso gehen lassen?
Mario Theissen: Das war eine schmerzhafte Entscheidung. Es gab drei Möglichkeiten: Eine war, ihn als Testfahrer im Team festzunageln, was aber angesichts der jahrelangen, gemeinsamen Förderung mit Red Bull völlig verrückt gewesen wäre. Also kam diese Option nicht in Frage. Die zweite Variante war, ihn bei uns ins Auto zu setzen - das kam auch nicht in Frage. Unser Team war gerade auf dem Weg nach vorne und wir hatten mit Nick Heidfeld und Robert Kubica zwei Fahrer, die um den Sieg fahren konnten. Diese gegen einen 18-Jährigen zu ersetzen, wäre für das Team und Sebastian sehr gefährlich gewesen. Die dritte Möglichkeit war, ihn schweren Herzens ziehen zu lassen, aber das würde ich heute genauso wieder machen.

Wenn Sie ihn heute sehen, hat er sich verändert?
Mario Theissen: Ja, natürlich. In diesem Zirkus und in diesem Spannungsfeld verändert sich jeder, das ist ganz unausweichlich. Ganz davon abgesehen, dass er persönlich reifer wird. In der Formel BMW war er noch ein Kind und heute ist er ein gestandener Mann, der den Ton in der Formel 1 angibt - das ist eine völlig andere Situation. Man muss sich gewisse Mechanismen zulegen, um in diesem Umfeld zu überleben. Das Schöne ist, wenn man ihn abseits der Rennstrecke sieht, gibt es kaum einen Unterschied zu früher. An der Strecke ist das natürlich anders, aber so geht es mir auch. Ich merke einen deutlichen Unterschied zu den Anfangszeiten von BMW Williams 2000 zu heute. Damals war es viel familiärer im Paddock. Man hat noch mit den Fahrern und Teams nebenan gesprochen, heute spielt sich die Kommunikation nur noch intern ab.

Hat Sebastian all das erreicht, was sie erwartet hatten?
Mario Theissen: Absolut. Ich drücke ihm die Daumen, dass er noch 10 bis 15 gesunde Jahre hat, denn so lange kann er hier den Ton angeben. Bis dahin könnten alle Rekorde von Michael Schumacher fallen, aber das ist eigentlich nur eine Nebensache. Sebastian hat jetzt schon mehr erreicht, als er sich als Kind zu träumen wagte. Alles, was jetzt noch kommt, ist eine Zugabe. Entsprechend entspannt kann er das auch sehen. Wer mit entsprechender Disziplin zu Werke geht, kann auch heute noch 15 Jahre in der Formel 1 fahren.