Warum gingen so viele Reifen in Silverstone kaputt?

Fünf Reifenschäden gab es am Silverstone-Wochenende – allesamt am linken Hinterreifen. Sergio Perez ereilte es als ersten im dritten Freien Training, dann platzten die Reifen von Lewis Hamilton, Felipe Massa, Jean-Eric Vergne und erneut Perez im Rennen. Während und kurz nach dem Rennen kursierten zwei mögliche Ursachen für die Reifenschäden: Ein scharfer Kerb an der Strecke, der die Reifen aufschlitzte, oder ein Fabrikationsfehler an den Reifen selbst. Eine Auflösung gibt es noch nicht. Pirelli teilte bislang nur mit, die Ursache bis zum nächsten Rennen am kommenden Wochenende auf dem Nürburgring untersuchen zu wollen.

Zumindest beim Trainings-Schaden von Perez am Samstag meinte Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery einen klassischen Reifenschaden ausgemacht zu haben. "Es war ein Cut in der Seitenwand", sagte der Brite. Ob ein Kerb oder herumliegende Teile dafür verantwortlich waren, konnte er jedoch nicht sagen. "Aber es ist ziemlich klar, dass sich der Cut in Rotationsbewegung befindet und es sich daher um keine Delaminierung handelt. Es ist komplett unabhängig von allem, was zuvor passiert ist."

Wie stark werden die Reifen in Silverstone gefordert?

Silverstone zeichnet sich vor allem durch langgezogene, schnelle Kurven aus. Die extrem hohen Geschwindigkeiten und seitlichen Fliehkräfte in den Highspeed-Kurven leiten sehr viel Energie durch die Reifen, das wirkt sich unmittelbar auf den Abrieb und den Verschleiß aus. Die Energie, die beim Bremsen durch die Reifen fließt, ist hingegen extrem niedrig. Die Fliehkräfte, die in Silverstone auf die Reifen wirken, sind mit die höchsten der Saison. Sie erreichen in der Spitze 5G. Das bedeutet, die Lauffläche kann sich auf 110 Grad Celsius erhitzen.

Wie viele Reifenschäden gab es 2013 schon?

Dieser Reifenschaden kostete Lewis Hamilton einen möglichen Sieg, Foto: Sutton
Dieser Reifenschaden kostete Lewis Hamilton einen möglichen Sieg, Foto: Sutton

Nicht nur in Silverstone standen die Reifen wegen Defekten im Mittelpunkt der Diskussionen. Inklusive Silverstone gab es an den ersten acht Rennwochenenden des Jahres 17 Reifenschäden. So hatte Lewis Hamilton bereits in Bahrain einen Reifenschaden hinten links. Auch am Caterham von Giedo van der Garde gab es ein ähnliches Problem. Die Teams klagten dabei über die sogenannte "Delaminierung".

Welche Reifen kamen in Silverstone zum Einsatz?

Pirelli hat für die Formel-1-Saison 2013 sechs verschiedene Reifen im Angebot. Zwei davon sind für Regen (Intermediate, Regenreifen), vier Reifenmischungen gibt es für trockene Bedingungen. Je zwei davon werden vor jedem Wochenende vom Reifenhersteller ausgewählt. In Silverstone kamen die harte (Orange) und mittlere (Weiß) Mischung zum Einsatz.

Um eine Ablösung der Lauffläche vom Kern der Reifen (Delaminierung) wie bei den vorangegangenen Rennen zu verhindern, nahm Pirelli vor Silverstone eine Veränderung am Produktionsprozess der Reifen vor. Die Lauffläche wurde deshalb mittels eines neuen Klebeprozesses mit dem Stahlgürtel verbunden.

Darüber hinaus erhielten die Teams während der Freitags-Trainings denselben harten Prototyp-Testreifen, den sie schon in Spanien fuhren. Er ist noch haltbarer als der aktuelle Slick, kommt aber nicht im Rennen zum Einsatz.

Was ist der Unterschied zwischen den Prototypreifen und den neu verklebten Reifen?

Neben den genannten Reifentypen hat Pirelli noch einen weiteren Experimentalreifen im Angebot. Dieser wurde erstmals im Freien Training in Montreal eingesetzt. Die Teams konnten wegen des schlechten Wetters aber keine aussagekräftigen Daten über diesen Reifen sammeln. Für die Einführung dieses Reifens benötigt Pirelli die Zustimmung aller elf Teams, die nicht erreicht werden konnte.

Im Gegensatz zu den in Silverstone verwendeten Reifen, bei denen die Lauffläche nur neu verklebt wurde, veränderte Pirelli bei den Kanada-Prototypen die Konstruktion der Hinterreifen. Bei der Konstruktion des neuen Hinterreifens handelt es sich laut Pirelli um eine geringfügige Änderung der 2011er und 2012er Reifen-Generation. Die innere Konstruktion besteht nicht mehr aus Stahl, sondern aus Kevlar.

Was sagen die betroffenen Fahrer & Teams?

Auch Vergne hatte einen Reifenplatzer zu verzeichnen, Foto: Sutton
Auch Vergne hatte einen Reifenplatzer zu verzeichnen, Foto: Sutton

Nach seinem Reifenschaden sah Lewis Hamilton rot - nicht nur, weil ein sicherer Sieg verloren ging, sondern weil er auch um sein Leben fürchtete. "Ich wollte mein Leben nicht für diese verdammten Reifen riskieren. Wir haben ein großes Sicherheitsproblem, das ist nicht zu akzeptieren", stellte der Mercedes-Pilot klar. Auch seine Leidensgenossen Sergio Pérez und Felipe Massa waren nicht gut auf die Reifen bzw. Pirelli zu sprechen. "Wir riskieren hier unser Leben. Der Reifenschaden passierte bei 250 km/h, Pirelli muss etwas tun", forderte Pérez. Massa fügte hinzu: "Heute lag unser Leben in Gottes Hand. Die Sicherheit lag im Rennen bei null."

Jenson Button blieb zwar von einem Reifenschaden verschont, fand die Situation aber auch inakzeptabel - schließlich erlebte sein Teamkollege an diesem Wochenende gleich zwei Reifenschäden. "Wenn man den Vorfall von Checo mitrechnet, hatten wir an diesem Wochenende fünf Vorfälle. Es ist schlimm genug, wenn so etwas in einer langsamen Kurve passiert, aber es geschieht auch auf der Geraden. Das ist nicht nur gefährlich für den Fahrer, der die Kontrolle über sein Auto verliert, sondern auch für alle dahinter. Kaum auszudenken, was passiert, wenn ein Fahrer bei Tempo 300 von dem herumfliegenden Reifen, der übrigens einen Metallgürtel hat, getroffen wird", stellte er klar. Kimi Räikkönen hatte im Rennen Glück. Als er hinter Jean-Eric Vergne fuhr, platzte dessen Reifen und die Teile flogen gegen den Helm des Finnen. "Das Risiko ist Teil des Sports", meinte der Finne unbeeindruckt.

Was sagt Pirelli?

Kaum war die schwarz-weiß-karierte Flagge geschwungen, prasselte von allen Seiten Kritik auf Pirelli herein. Motorsportdirektor Paul Hembery war zu einer Stellungnahme gezwungen. "Das war heute nicht vorhersehbar. Es ist ein ganz anderes Problem aufgetaucht, das wir analysieren müssen. Wir müssen verstehen, was passiert ist. Wenn wir die Fakten kennen, dann können wir etwas dazu sagen", erklärte Hembery.

Für die Pirelli-Kritiker war diese Antwort aber nicht ausreichend, weshalb die Italiener den Teams noch einmal versicherten, dass sie das Problem ernst nehmen und bis zum Deutschland GP eine Antwort gefunden haben wollen. Den neuen Klebeprozess konnte Pirelli als Ursache für die Reifenschäden bereits ausschließen.

Was sagen die Experten?

Wer hat Schuld an den Reifenschäden, war die meistgestellte Frage nach dem Rennen in Silverstone. Lag es tatsächlich an den Reifen selbst oder vielleicht doch an den Kerbs? Motorsport-Magazin.com-Experte Christian Danner geht von Letzterem aus. "Natürlich fehlt mir die letzte Analyse von Pirelli. Aber ich sage es einmal so: die klassische Delaminierung ist nicht der Fall gewesen. Was wir gesehen haben, war ein Cut auf der inneren Schulter des Reifens. Dieser Schnitt taucht natürlich nicht von allein auf, da muss etwas gewesen sein, wo man drübergefahren ist. Vordergründig kann man also Pirelli keinen Vorwurf machen", meinte Danner.

Alexander Wurz sah die primäre Ursache der Reifenschäden in einer Überforderung der inneren Schulter aufgrund der hohen Fliehkräfte. Der Österreicher erwartet nicht, dass beim kommenden Rennen auf dem Nürburgring ein ähnliches Reifenmassaker auftreten wird. "Aber die Lage ist prekär. Man muss sich die Sache genau ansehen und lösen - ich hoffe, das ist möglich", sagte Wurz gegenüber Motorsport-Magazin.com.

Wie geht es weiter?

Solche Bilder soll es nicht mehr geben, Foto: Sutton
Solche Bilder soll es nicht mehr geben, Foto: Sutton

FIA-Präsident Jean Todt berief kurz nach dem Großbritannien Grand Prix Pirelli-Motorsportdirektor Paul Hembery und FIA-Renndirektor Charlie Whiting zu einem Meeting zusammen, um das Reifenmassaker von Silverstone zu besprechen. Für kommenden Mittwoch wurde zudem ein Treffen der Sporting Working Group in Paris anberaumt. "Für Budapest muss man eine Lösung fordern", klagte Niki Lauda. "Ich glaube, dass das technisch möglich ist. Regeln hin oder her, Pirelli muss für Budapest neue Reifen bringen. Ein Fahrer kann tot sein, wenn ihm ein Trümmerteil ins Gesicht fliegt."

Auch Adrian Newey forderte Veränderungen: "Vielleicht ist es an der Zeit, dass man Pirelli erlaubt, seine neuen Kevlar-Karkassen einzuführen." Diese Reifen wurden, wie oben beschrieben, in Kanada getestet, erhielten aber kein einstimmiges "Go" aller Teams.

Der Grund: Teams wie Force India oder Lotus fürchten, dass ihre reifenschonenden Autos mit den veränderten Hinterreifen nicht mehr so gut sein könnten. Pirelli entschied sich deshalb für die veränderte Verklebung der Reifen, die keine Konstruktionsänderung erforderte und ohne Zustimmung der Teams durchgeführt werden konnte. Nach dem Debakel von Silverstone dürften die Reifen allerdings wohl auch ohne Einstimmigkeit unter den Teams aus Sicherheitsgründen verändert werden.

Redaktionskommentar

Motorsport-Magazin.com meint: So geht es nicht weiter! Fast im Minutentakt explodierten beim Großbritannien GP an irgendeinem Auto der Hinterreifen. Dabei wurde die Gesundheit der Piloten nicht nur durch High-Speed-Abflüge, sondern auch durch umherfliegende Reifenfetzen gefährdet. Wir erinnern uns daran, wie schwer eine verlorene Feder von Rubens Barrichellos Brawn-Boliden einst Felipe Massa verletzte. Das muss aufhören!

Dem wird auch Pirelli zustimmen. Immerhin ist es für den Reifenhersteller alles andere als eine imagefördernde Werbung, wenn es an acht Rennwochenenden 17 Reifenschäden gibt. Gleichzeitig sollten die Beteiligten mit Schuldzuweisungen vorsichtig sein: So lange die Ursache für die Defekte nicht eindeutig geklärt ist, ist es nicht besonders produktiv, ausschließlich auf Pirelli herumzuhacken. Klar ist nur eines: Das leidige Reifenthema wird uns auch in den kommenden Wochen weiter begleiten... (Stephan Heublein)