Es ist still, überraschend still. Ein langer, weißer Korridor führt über einen Zwischenraum in einen recht kleinen, rechteckigen Raum mit Glasfront. "Clean Area", kündigen die Schilder an jeder der vielen Glastüren auf dem Weg dorthin an. An der Wand hängt ein Kasten mit einer Vielzahl an frischen Handschuhen, dicke Schläuche reichen bis in die rechte hintere Ecke und mittendrin steht das Objekt der Begierde: Recht unspektakulär thront der neue Mercedes-Benz V6-Formel-1-Motor auf einer Befestigung. Was würden die Verantwortlichen in Maranello und Viry-Châtillon nicht alles für diesen Anblick geben? Und wie wir seit Neuestem wissen, wären diese Bilder auch in Japan heiß begehrt...

Viele Details gibt es für den Techniklaien aber selbst hier nicht zu sehen, im Allerheiligsten, auf dem Motorenprüfstand von Mercedes AMG High Performance Powertrains in Brixworth. Anders als bei den Turbomotoren der 80er Jahren ist der eigentliche Turbo etwas versteckt und nicht mehr wie früher an der Seite direkt sichtbar. Neu sind die integrierten Einheiten zur Energierückgewinnung aus Wärme und kinetischer Energie. Alles zusammen wird ab 2014 als "Power Unit" bekannt sein.

So sieht der neue V6-Motor von Mercedes aus, Foto: Mercedes-Benz
So sieht der neue V6-Motor von Mercedes aus, Foto: Mercedes-Benz

Bereits Mitte Januar heulte der neue 1,6 Liter V6-Motor auf diesem Prüfstand auf - lange bevor die 2013er Autos ihre ersten Runden in Jerez drehten. Das Mercedes-Motorenwerk in Brixworth ist zu dieser Jahreszeit im Dauerstress. 48 Rennmotoren plus eine ungenannte Anzahl an Aggregaten für Testfahrten und Prüfstandsversuche werden hier gefertigt. Zwei Drittel aller Motoren des sogenannten Race Pools müssen bis zum Saisonstart fertig sein. Aber das ist nur die Pflicht, im Hintergrund werkeln die Mannen rund um Geschäftsführer Andy Cowell fleißig an der Zukunft der Formel 1. Mit der Einführung der 1,6 Liter Sechszylindermotoren ab der Saison 2014 beginnt in der Königsklasse eine neue Zeitrechnung.

Neu: Power Unit & ERS

Die Basis des neuen Reglements ist simpel: Es gibt keinen Motor mehr, sondern eine "Power Unit". Diese besteht aus dem V6-Verbrennungsmotor mit einem Drehzahllimit von 15.000 Umdrehungen pro Minute, einem zweigeteilten Energierückgewinnungssystem (kurz ERS), dem Energiespeicher, der Elektronik und einem Turbolader mit max. 125.000 rpm. Für den Motor gilt ein maximaler Benzinfluss von 100 kg/h, bei einer vorgegebenen Spritmenge von 100 kg (140 Litern) pro Rennen. Derzeit sind bei einem Grand Prix rund 150 kg (210 Liter) im Tank. Insgesamt wird die Anzahl der beweglichen Teile des Motors im Vergleich zum V8 um 15% reduziert. Die neuen Regeln sollen eine Effizienzsteigerung um 30% mit sich bringen, dabei aber die gleiche Leistung (ca. 750 PS) erzeugen und die gleichen Rundenzeiten ermöglichen. "Es geht darum, die gleiche Performance mit weniger Sprit zu erreichen", erklärt Cowell. Entsprechend wird der Begriff "Performance" ab 2014 durch "Effizienz" ersetzt.

Die Anzahl der erlaubten "Power Units" schrumpft von derzeit acht auf fünf, die frei über die Saison verteilt werden dürfen. Ein defektes KERS bedingt so den Wechsel der gesamten "Power Unit". Sollte auf diese Weise die sechste Einheit zum Einsatz kommen, gibt es eine Strafe. Die Limitierung senkt die Kosten, stellt die Hersteller und Teams jedoch vor eine neue Herausforderung in Sachen Zuverlässigkeit. Das Mindestgewicht der gesamten "Power Unit" ist auf 145 kg festgelegt, also rund 15-20 kg schwerer als die Summe der Einzelteile heute. "Allerdings zählen der komplette Auspuff und weitere Teile, die aktuell nicht in den 95 kg Motormindestgewicht enthalten sind, per Definition zur Power Unit", verrät Cowell.

Aus diesem Grund wird auch das Mindestgewicht des Autos 2014 angehoben. Gleichzeitig ist es den Herstellern erlaubt, zwei Kilogramm Ballast an einem niedrigen Punkt im Motor zu platzieren. Somit darf die eigentliche "Power Unit" im besten Fall 143 kg wiegen. "Das wird aber nicht einfach", betont Cowell. "Du musst dich ans Gewichtslimit halten, willst den Schwerpunkt aber möglichst niedrig halten. Es gibt allerdings auch Vorschriften, wie niedrig man gehen darf, damit kein Hersteller etwas Verrücktes tut."

Die heiligen Hallen im englischen Brixworth, Foto: Mercedes-Benz
Die heiligen Hallen im englischen Brixworth, Foto: Mercedes-Benz

Seit der Einführung von KERS in der Saison 2009 hat sich die F1-Welt daran gewöhnt, dass die Fahrer per Knopfdruck für 6,7 Sekunden pro Runde 81 Zusatz-PS abrufen können. Dieser Wert verdoppelt sich 2014: Das neue ERS stellt den Piloten für 33,3 Sekunden pro Runde 163 Zusatz-PS zur Verfügung. "Wenn man bedenkt, dass ein Fahrer im Durchschnitt 50 Sekunden einer Runde Vollgas fährt, sind 33 Sekunden ein viel höherer Anteil als 6,7 Sekunden", rechnet Cowell vor. Seine simple Schlussfolgerung: "In dieser Saison wird es schwierig, ohne KERS schnell zu sein. 2014 wird es unmöglich, ohne ERS schnell zu sein."

Aus diesem Grund hat Mercedes schon jetzt damit begonnen, die Haltbarkeit von KERS zu erhöhen. Dies senkt einerseits die Kosten und bietet andererseits einen Lerneffekt für das neue System. Aber wo kommt die zusätzliche Energie her? Dem Hybrid-System steht 2014 mit 120 kW die doppelte Leistung zur Verfügung. Die Energie wird sowohl von den Bremsen als auch aus Abwärme gewonnen. ERS sammelt die fünffache Menge an Energie an der Hinterachse und speichert das Zehnfache im Vergleich zum aktuellen KERS.

Neu: Das Racing 2014

Ein lautes Heulen erfüllt den Raum. Das wohlbekannte Geräusch eines Rennmotors, der auf den langen Geraden in Monza der Höchstdrehzahl entgegenzischt. "Als ich beim ersten Prüfstandtest dabei gestanden habe, hatte ich ein breites Grinsen im Gesicht", erinnert sich Cowell und erstickt damit alle Ängste vor einem zu langweiligen V6-Motorensound im Keim. "Er klingt laut und süß", fährt Cowell lachend fort. "Der Sound ist etwas höher als heute. Die Frequenz ist die gleiche, aber die Dezibel sind etwas niedriger als beim V8. Aber wenn der Motor läuft, ist es sicher nicht leise."

Der Sound der neuen Formel-1-Ära ist also gerettet. Aber was verändert sich sonst noch? "Wann immer es Regeländerungen gibt, besteht das Risiko, dass jemand damit besser zurechtkommt oder eine Idee hat, die es vorher noch nicht gegeben hat", räumt Cowell die Möglichkeit ein, dass ein Motorenhersteller viel bessere Arbeit abliefern könnte als die anderen. Diese Angst herrscht vor allem bei Ferrari und Renault vor, immerhin gilt Mercedes bereits seit Jahren als das Maß der Dinge in Sachen Motorpower. Noch sind dies allerdings reine Spekulationen. Bislang weiß niemand, welcher der Hersteller den besten Motor bauen wird. Fest steht hingegen, dass der Motor im Gesamtkonzept wieder wichtiger werden wird. "Wir bringen den Motor wieder zurück in den Motorsport", so Cowell. "Der Motor wird wieder mehr Einfluss haben, die Aerodynamik etwas weniger. Es geht also mehr in Richtung der traditionellen Basis, in welchem Ausmaß werden wir aber erst 2014 sehen."

Auch für die Fahrer wird sich im Cockpit einiges ändern und das nicht nur, weil sie öfter und länger den ERS-Knopf drücken müssen. "Das Racing wird eine neue Qualität erhalten", glaubt Cowell. "Es wird mehr in Richtung einer Formel für denkende Fahrer gehen, die das meiste aus dem Auto und der verfügbaren Energie herausholen müssen." So lange der Motor effizient ist, wird es für die Fahrer jedoch keinen Grund geben, sich darüber zu beschweren, dass sie nicht am Limit fahren könnten. "Die Leistungskurve ist viel breiter, das Auto hat bei niedrigen Drehzahlen viel mehr Drehmoment und damit vor allem am Kurvenausgang mehr Power als Grip", erklärt Cowell. "Dadurch wird das Heck nervöser und der Fahrer ist gefordert, die Kraft auf die Straße zu bringen."

In Brixworth entstehen die neuen Mercedes-Motoren, Foto: Mercedes-Benz
In Brixworth entstehen die neuen Mercedes-Motoren, Foto: Mercedes-Benz

Die Autos werden zu Beginn eines Rennens etwas leichter als heute sein, wobei die "Power Unit" und das Fahrzeug selbst etwas schwerer sind, dies aber durch das geringere Spritgewicht ausgeglichen wird. Im Ziel wird das Auto durch den verbrauchten Sprit leichter sein als beim Start, allerdings durch das höhere Mindestgewicht etwas schwerer als in dieser Saison. Entsprechend wird die schnellste Strategie für eine Renndistanz ganz anders sein als für eine schnelle Runde im Qualifying.

Selbst das Design der Autos könnte sich durch die neue Motorenformel sichtlich verändern. Der Auspuff wird zentral unter dem Beam-Wing austreten, allerdings heißt das noch lange nicht, dass die Ingenieure nicht einen Weg finden, um die Auspuffgase abtriebsfördernd zu nutzen. "Sie verbringen viel Zeit damit, die FIA-Regeln zu studieren", sagt Cowell schmunzelnd. "Es ist ein Wettbewerb, bei dem der beste Ingenieur gewinnen wird." Vielleicht verzichtet das siegreiche Genie dabei auf eine typische Airbox, wie sie mittlerweile in der Formel 1 üblich ist, und setzt stattdessen nur auf einen kleinen Überrollbügel wie bei den Indycars. "Alle Autos werden etwas anders aussehen", hält sich Cowell bedeckt. "Das kann viel oder gar nichts bedeuten." Bis dieses neue Geheimnis gelüftet wird, hallt der süße V6-Sound noch unzählige Male durch die weißen Korridore in Brixworth.

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Diese Geschichte stammt aus der Printausgabe des Motorsport-Magazins. Wenn Sie mehr Hintergrundartikel, Exklusivinterviews und spannende Geschichten dieser Art lesen möchten, probieren Sie das Motorsport-Magazin für drei Ausgaben aus: