"Guten Tag, Herr Hamilton. Ihr Auftrag, sollten Sie ihn annehmen, lautet, Mercedes zu altem Glanz zurück zu führen und Weltmeister zu werden. Das Motorsport-Magazin wird sich in fünf Sekunden selbst vernichten. Viel Glück. Lewis, übernehmen Sie."

Der Schweiß läuft ihm über die Stirn. Seine Augen starren unter der roten Kappe heraus auf die versammelte Journalistenmeute. Plötzlich zieht er sein Handy aus der Hosentasche, lächelt schüchtern in die Runde und knipst munter einen Schnappschuss nach dem anderen. Eben ein typischer Vertreter der Facebook- und Twitter-Generation. Jugendlich, unbekümmert, unbeschwert. Lewis Hamilton wirkt fast wie der Junge von nebenan. Doch die unmittelbare Zukunft wirft ihre Schatten voraus. Auf seinen Schultern lasten bald mehr als 111 Jahre Motorsport-Geschichte. Er soll zu Ende bringen, woran der erfolgreichste Rennfahrer der Formel 1 in drei Jahren scheiterte: Mercedes zum Weltmeister zu machen.

Ganz gewiss kein Spaziergang, dessen ist er sich bewusst. "Es ist eine aufregende Vorstellung, zu einem Team zu kommen, das noch kein großartiges Auto besitzt", sagt er. Das ist seine neue Herausforderung, sein Mount Everest, sein Ferrari. "Michael kam als Weltmeister zu Ferrari, das seit Jahren nicht gewonnen hatte", weiß Hamilton genau, dass seine Leistung bei Mercedes mit der roten Aufbauarbeit seines direkten Vorgängers im Silberpfeil-Cockpit verglichen werden wird. Aber ist er dieser Aufgabe gewachsen?

"Es war eine andere Zeit, als Michael zu Ferrari kam", erinnert sich David Coulthard, der damals gegen Schumacher fuhr. Der Deutsche habe bei der Scuderia mit den gleichen Schlüsselfiguren wie bei Benetton zusammengearbeitet. "Soweit ich weiß, nimmt Lewis aber keine Gruppe von McLaren mit." Für den Schotten ist entscheidend, ob Mercedes Hamilton ein gutes Auto zur Verfügung stellen kann. "Wenn sie es schaffen, dann wird er gewinnen." Auch Ex-Formel-1-Pilot Christian Danner glaubt, dass die beiden Fälle nicht vergleichbar sind. "Die Struktur, auf die Lewis in Brackley trifft, ist eine komplett andere", betont Danner. Mercedes habe eine große Anzahl an Ingenieuren versammelt, die allesamt aber noch den Nachweis schuldig seien, ein schnelles Auto zu bauen. "Lewis hat eine weitaus schwierigere Aufgabe, wenn er Mercedes zu dem Team machen möchte, das Michael damals bei Ferrari hatte."

Das Motorsport-Magazin hat sich schon mal überlegt, wie Lewis Hamilton in Mercedes-Kluft aussehen wird., Foto: adrivo Sportpresse/Sutton
Das Motorsport-Magazin hat sich schon mal überlegt, wie Lewis Hamilton in Mercedes-Kluft aussehen wird., Foto: adrivo Sportpresse/Sutton

Hamilton muss seine Herangehensweise ändern. "Es ist einfach, zu sagen, dass ich ein Team um mich aufbauen möchte, aber es ist sehr schwierig umzusetzen", mahnt Martin Brundle. "Man muss hart und egoistisch sein. Das waren alle großen Champions, sie wollen im Mittelpunkt stehen - deswegen sind sie so gut." Erschwert wird diese Mission durch das Reglement. "Als Michael das Team bei Ferrari aufbaute, durfte er testen, testen und noch mehr testen", erinnert Johnny Herbert im Gespräch mit dem Motorsport-Magazin. In der modernen Formel 1 sind Testfahrten verboten, die Arbeit findet im Simulator statt - das macht es schwieriger. "Kann es Lewis schaffen? Ja, er kann", glaubt Herbert. "Er ist einer der besten Fahrer im Feld. Er ist motiviert, er will Rennen und weitere Titel gewinnen." Auch er sieht das Fragezeichen bei Mercedes: "Das Team hat Potenzial, aber ich bin mir noch immer nicht ganz sicher, ob sie das komplette Paket besitzen, um diese Entwicklung zu schaffen. Sie müssen gemeinsam weiter wachsen und es beweisen."

Um Michael Schumachers Ferrari-Ära nachzueifern, muss Hamilton das Team unaufhörlich motivieren und die Entwicklung vorantreiben. "Er wird dort hingehen und denken, dass er die Nummer 1 ist", sagt Herbert. "Wenn man jemanden sucht, der ein Team um eine halbe Sekunde schneller macht, dann gehört Hamilton zweifelsohne dazu." Auch Fernando Alonso und Sebastian Vettel sieht er in dieser Liga der außergewöhnlichen Rennfahrer. "Aber das reicht noch nicht, sie müssen die Weiterentwicklung ankurbeln und dafür braucht man jemanden mit der Mentalität eines Michael Schumacher. Das muss Lewis jetzt liefern. Ross verlangt das." Herbert kennt Teamchef Ross Brawn aus seiner Zeit bei Benetton. Er beschreibt Brawn als sehr intensiven Menschen, der vom Fahrer viel Einsatz verlangt - diesem dafür aber auch viel zurückgibt. In dieser Rolle muss Hamilton sein technisches Wissen und Können einbringen. Er selbst verriet vor einiger Zeit im Motorsport-Magazin, dass er sein Auto in- und auswendig kenne. "Ich persönlich verlasse mich nicht ausschließlich auf meinen Renningenieur und sage ihm: Ich habe dieses Problem, bitte behebe das - und dann macht er alles im Alleingang", so Hamilton. "Stattdessen komme ich in die Box und sage: Wir sollten dies und das ausprobieren. In 99 Prozent der Fälle liege ich richtig."

Brawn sieht darin eine Schlüsselfunktion eines modernen Topfahrers. "Ein Fahrer kann dir nicht sagen, wie genau die Aufhängungsgeometrie geändert werden muss, das ist nicht sein Fachgebiet", erklärt Brawn. "Aber er kann dir dabei helfen, besser zu verstehen, welche Aspekte des Autos dich davon abhalten, eine bessere Rundenzeit zu fahren." Michael Schumacher sei auf diesem Gebiet großartig gewesen und habe den Ingenieuren sehr geholfen. "Er war viele Tage in der Fabrik, hat das Team unterstützt. Diese Rolle muss ein Topfahrer einnehmen." Doch genau an diesen Fähigkeiten zweifeln die Experten bei Hamilton. "Lewis kann nur seinen Speed einbringen", sagt Coulthard dem Motorsport-Magazin. Er habe zwar nie direkt mit Hamilton oder Schumacher zusammengearbeitet, aber bei McLaren habe er öfter gehört, dass das Team lieber das Setup von Jenson Button verwendete als jenes von Hamilton. "Ich weiß es nicht aus eigener Erfahrung, aber was ich gehört habe, ist Lewis auf diesem Gebiet nicht so stark wie Michael", bestätigt Herbert. Möglicherweise habe Hamilton aber verstanden, dass er sich technisch verbessern und mehr Einsatz zeigen müsse, um es zu schaffen. So zeigt er immer mehr Interesse daran, wie sein Auto funktioniert. Alex Wurz schreibt Hamilton durchaus technisches Wissen zu, immerhin komme er von einem Weltklasseteam, das sehr akribisch arbeite. "Da nimmt er sicherlich sehr viele Systemabläufe mit", so Wurz. "Ich glaube aber, dass es nicht nur um die Qualität des Feedbacks geht, sondern auch um einen gewissen Motivationsschub und die nötige Aufbruchsstimmung im Team."

Hamilton also als Motivator und Antreiber, der das Team zu einer eingeschworenen Truppe verschmilzt, wie es Schumacher bei Ferrari vorzüglich gelang. Er muss Politiker und Personalmanager sein, ständig im Kontakt mit den Ingenieuren stehen, richtig mit den Menschen umgehen. "Lewis macht manchmal den Eindruck, dass er nicht reif genug ist, dass er sich noch nicht so entwickelt hat, wie man es von einem McLaren-Piloten erwarten würde", zweifelt Herbert daran, dass Hamilton dieser entscheidenden Rolle bereits gerecht werden kann. Vorfälle wie die Twitter-Affäre von Belgien, als Hamilton sensible Telemetriedaten ins Internet stellte, zeugen nicht gerade von besagter Reife. "So etwas macht man im Kartsport, aber nicht, wenn man schon Formel-1-Weltmeister gewesen ist", kritisiert Herbert, der aber auch einen gewissen silbernen Hoffnungsschimmer ausmacht. Die deutsche Mentalität bei Mercedes könnte gemäß Herbert gut für Hamilton sein. "Klar, McLaren ist auch organisiert, aber es geht um die Atmosphäre, die ist bei Mercedes anders als bei McLaren. Das könnte einen besseren Lewis Hamilton hervorbringen. Aber er muss erwachsen werden."

Bei Mercedes wird Hamilton wohl mehr Freiraum erhalten als bei McLaren., Foto: Sutton
Bei Mercedes wird Hamilton wohl mehr Freiraum erhalten als bei McLaren., Foto: Sutton

Alex Wurz glaubt, dass Hamilton durchaus über sich hinauswachsen könnte, wenn ihn das Team an der langen Leine lässt. Bei McLaren hatte Hamilton eine Rundumbetreuung und Kontrolle - von der Marketing- und der Presseabteilung über Sam Michael bei den Ingenieuren bis zu Ron Dennis, der ihm im Notfall deftig die Leviten gelesen hat. "Wenn du einen Fahrer lässt, wie er ist, bekommst du normalerweise das Beste aus ihm heraus", sieht auch Danner einen Vorteil in der langen Leine. "Wenn du ihn einzwängst, reicht es ihm irgendwann. Die Frage ist, wie konzentriert Lewis ist oder wie sehr er zum Beispiel von seiner Freundin abgelenkt wird." Um die bislang unmögliche Mission erfolgreich abzuschließen und aus dem Mythos Mercedes wieder ein Weltmeisterteam zu formen, darf sich Hamilton keine Nebenkriegsschauplätze wie Trennungen und Wiederversöhnungen leisten. Wie ein Weltmeister ein Team an die Spitze führt, hat Schumacher bei Ferrari vorgelebt. Wie es daneben gehen kann, zeigte ein anderer Champion: Jacques Villeneuve scheiterte beim Aufbau von BAR kläglich. Über den Umweg Honda und Brawn GP ist aus diesem Team mittlerweile Mercedes geworden. Jetzt muss Hamilton die Arbeit beenden. "Lewis hat seinen Zug gemacht, daran wird er gemessen werden", sagt Coulthard. Wenn Mercedes Fortschritte macht, mit ihm mehr Siege und den Titel feiert, wird er dafür gelobt werden, wenn nicht, wird es wie bei Schumacher heißen, dass er sein Ziel verfehlt hat.

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