Marussia ging in der Saison 2012 zum dritten Mal in der Königsklasse des Motorsports an den Start. Nachdem das englische Team im ersten Jahr noch unter dem Namen Virgin Racing antrat, kaufte sich die russische Automobilschmiede Marussia ein, weshalb die Briten 2011 als Marussia Virgin starteten. In dieser Saison trat das Team zum ersten Mal als reines Marussia F1 Team an. Doch das sollte nicht die einzige Änderung für die Saison 2012 sein.

Nachdem die Resultate in den ersten beiden Jahren eher dezent ausfielen, sollte in dieser Saison der große Umbruch stattfinden. Die Herangehensweise in der Entwicklung wurde geändert, Räumlichkeiten zusammengelegt und Personal ausgetauscht. Doch die Resultate auf der Strecke änderten sich nur geringfügig. Dass beim letzten Rennen der Saison der zehnte Platz in der Konstrukteurswertung verloren ging, ist sicherlich bitter - aber auch nicht unverdient, war man doch meistens hinter Dauerrivale Caterham.

Nick Wirths CFD-Traum entpuppte sich als Albtraum, Foto: Sutton
Nick Wirths CFD-Traum entpuppte sich als Albtraum, Foto: Sutton

Das Team: Es war die erste komplette Saison ohne Nick Wirth, ohne dessen genauso revolutionären wie gescheiterten Ansatz, ein Auto ausschließlich mit CFD-Berechnungen und ohne Windkanal zu entwickeln. An seiner Stelle wirkte mit Pat Symonds ein Formel-1-Urgestein mit, das dem Team in der Vorsaison wegen seiner Verwicklung in die Crashgate-Affäre nur in beratender Tätigkeit zur Verfügung stehen durfte.

Für eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen Entwicklungsabteilungen untereinander wurde in Banbury ein Technikcenter geschaffen, das vor allem beim Design helfen sollte, da das Designteam nun viel enger in alle Abläufe integriert war. Zugleich wurde die Aerodynamik-Abteilung völlig neu strukturiert, schließlich wurden CFD-Simulationen und Windkanal nun zusammen genutzt. Zusätzliche Hilfe versprach die Zusammenarbeit mit McLaren Applied Technologies, die bereits seit Mitte der Saison 2011 lief. Über die Tatsache, dass die Zusammenarbeit nicht sofort Früchte tragen würde, war sich Marussia bewusst, das Projekt ist langfristig ausgerichtet.

Während der Saison wurde das Team von einem schrecklichen Unfall von Testfahrerin Maria de Villota erschüttert. Die Spanierin verunglückte bei Straight-Line-Tests im britischen Duxford schwer und erlitt dabei lebensgefährliche Kopfverletzungen. Die Unfallursache ist bis heute ungeklärt, ein Marussia-Ingenieur erzählte Motorsport-Magazin.com, dass sich niemand im Team den Unfall erklären könne und die gesamte Belegschaft unter Schock gestanden habe.

Das Auto: 2012 sollte der große Paradigmenwechsel stattfinden. Der VMR-02 wurde durch den MR01 ersetzt. Nachdem die Defizite der ersten beiden Saisons schnell ausgemacht waren - die Aerodynamik war das Hauptmanko - änderte das Team die Herangehensweise an die Entwicklung radikal. Waren bei den Vorgängern nur CFD-Simulationen (Computational Fluid Dynamics) für die Aerodynamik zum Einsatz gekommen, setzte es 2012 auf eine Entwicklung mit Windkanal. Als einziges Team in der Königsklasse war Marussia bis dato ohne einen solchen ausgekommen, CFD war das große Aushängeschild. Das erste rein am Computer entstandene Auto sollte die Formel 1 aufmischen, doch nach zwei Jahren ohne signifikante Verbesserung realisierte auch die Teamspitze um John Booth, dass man sich mit dieser Herangehensweise auf dem Holzweg befand und ordnete umfassende Änderungen an.

Stillstand: der MR01 bestand nicht alle Crashtests, Foto: Sutton
Stillstand: der MR01 bestand nicht alle Crashtests, Foto: Sutton

Da stand er nun, der erste Marussia-Windkanal-Bolide - und durfte nicht fahren. Weil nicht alle von der FIA vorgeschriebenen Crashtests bestanden wurden, waren Timo Glock und Charles Pic bei den Wintertestfahrten zum Zuschauen verdammt. Erst am 5. März wurde das endgültige Fahrzeug der Öffentlichkeit vorgestellt, Testfahrten konnten vor dem Saisonauftakt allerdings nicht mehr durchgeführt werden. Erste Gemeinsamkeiten mit dem Fahrzeug des Technologiepartners McLaren waren schon zu erkennen: Die 2012 in Mode gekommene Höckernase vermisste man beim VMR-02 genauso wie bei McLarens MP4-27.

Während der Saison erwies sich das neue Auto zwar als zuverlässig, die Performance ließ aber weiterhin zu wünschen übrig. Balance und aerodynamische Stabilität machten im Vergleich zum Vorjahr zwar einen großen Fortschritt, fehlendes KERS verhinderte aber bessere Resultate. Gelegentlich konnte Caterham geärgert und manchmal auch hinter sich gelassen werden, zu mehr reichte es aber nicht. Die besondere Schwachstelle des Boliden war das Verhalten im ersten Stint, in dem die Piloten verhältnismäßig zu viel Zeit verloren. Gegen Ende des Jahres verbesserten vor allem aerodynamische Updates das Auto, sodass dem Team ein weiterer Schritt in Richtung Caterham und Mittelfeld gelang.

Die Fahrer: Zum dritten Mal in drei Jahren bekam Timo Glock einen neuen Teamkollegen an seine Seite gestellt. Nach Lucas di Grassi und Jerome d'Ambrosio hieß der neue Mann diesmal Charles Pic. Der Franzose hatte 2011 in der GP2 Platz vier belegt und schaffte mit seinem Manager Oliver Panis den Sprung in die Königsklasse. Am Ende des Jahres wurde Pic bei einigen Freitagstrainings durch Max Chilton ersetzt, der auch bei den Young Drivers Tests in Silverstone für Marussia ins Lenkrad griff.

An den Fahrern kann der Misserfolg nicht festgemacht werden, Foto: Sutton
An den Fahrern kann der Misserfolg nicht festgemacht werden, Foto: Sutton

Pic konnte sich trotz fehlender Testfahrten schnell an die Formel 1 gewöhnen und lieferte von Anfang an solide Resultate. Immerhin sieben Mal konnte der junge Franzose den erfahrenen Timo Glock im Qualifying besiegen. Einschränkend muss gesagt werden, dass fast die gesamte Entwicklungsarbeit im Team auf den Schultern des Odenwälders lastete und somit eine optimale GP-Vorbereitung nicht immer möglich war. Glock lieferte aber auch in seiner dritten Saison beachtliche Leistungen, der ganz große Coup blieb aber nach wie vor aus. In den turbulenten Rennen der Saison nutzten beide Fahrer ihre Chancen und fuhren jeweils mit Rang zwölf ihre besten Saisonresultate ein.

Pro: Marussia setzte in den letzten beiden Jahren alles auf eine Karte und verlor. Zwar war die Saison 2012 nicht wirklich von Erfolgen gekrönt, doch der Richtungswechsel war ein Schritt in die richtige Richtung. Auch das Eingestehen des Scheiterns mit CFD-Berechnungen zeigt Größe und beweist, dass Marussia langfristig in der Formel 1 plant. Auch die Fahrerbesetzung halte ich für ein so junges Team sinnvoll: mit Timo Glock hat man eine Konstante im Team, die mit seiner Erfahrung zur Entwicklung des Autos beitragen kann. An seiner Seite wechseln sich junge, talentierte Piloten ab, die frischen Wind und Sponsorengelder in die Truppe bringen. Kommt in der nächsten Saison das heiß ersehnte KERS, ist der Anschluss ans Mittelfeld möglich. Christian Menath

Contra: Knapp daneben ist auch vorbei - Marussia scheiterte in Brasilien am Unterfangen, den wichtigen zehnten Platz in der Konstrukteurs-WM nach Hause zu fahren und damit verbunden eine Menge Geld, das sinnvoll hätte genützt werden können. Auf der Strecke verdient hatte man sich den Bonus ohnehin nicht. Machte Caterham einmal ernst, war man nicht mehr in Schlagdistanz - ganz im Gegenteil: Trotz der dortigen Krise saß einem HRT mehr im Nacken als noch in den Vorjahren. Festzuhalten bleibt: Der erhoffte Fortschritt oder gar ein Sprung nach vorne blieb 2012 nüchtern betrachtet aus - durch den Wegfall der Spanier droht einem 2013 zudem die rote Laterne. Bahnbrechende Ideen, die eine Gratwanderung nach sich ziehen könnten, sind nicht in Sicht - ebenso wenig wie rosigere Zeiten. Frederik Hackbarth