"Die Leute haben alles versucht, um uns zu schlagen - innerhalb und außerhalb der Grenzen", lamentierte Sebastian Vettel nach seinem dritten Titelgewinn in Folge am Sonntag in Interlagos. Anstatt sich über das erfolgreiche Ergebnis von Sao Paulo zu freuen, das im Rennen mehr als nur einmal auf der Kippe stand und mit weniger Glück durchaus auch hätte anders ausgehen können, legte der Red-Bull-Pilot mit Blick auf den knapp geschlagenen Konkurrenten Ferrari nach: "Viele Leute haben versucht, mit schmutzigen Tricks zu spielen. Ich denke, das ist klar. Aber es liegt nicht an uns, das zu beurteilen..." Bei letzter Aussage fragt man sich als neutraler Beobachter, warum Vettel im Moment seines großen Sieges dann genau das tut? In Phrasen flüchtete sich der frisch gebackene Titelverteidiger anschließend: "Es ist immer wichtig, dass man mit dem, was man im Spiegel sieht, glücklich ist."

"Und es macht keinen Sinn, falsch zu sein oder zu versuchen, zu betrügen, denn man kann sich nicht selbst belügen", stellte Vettel fest und wirkte durch sein nicht enden wollendes Hinweisen auf die Verfehlungen anderer so, als hätte er den Titel soeben nicht gewonnen sondern auf unlautere Art und Weise verloren. Seiner Meinung nach habe die Konkurrenz Dinge getan, die über dem Limit gewesen seien. Der Gipfel seiner Provokation: "Lügen haben kurze Beine und Ehrlichkeit währt am längsten. So bin ich erzogen worden", grinste der in diesem Augenblick selbsternannte Gutmensch vor den TV-Mikrofonen. Die Antwort auf die Frage, warum er sich als glücklicher Sieger des Tages anschließend öffentlich in die Opferrolle begeben und gegen die auf der Strecke besiegte Konkurrenz verbal nachtreten muss, blieb er schuldig.

Nörgelei statt purer Freude

Vor den Kameras holten Horner & Vettel zum Nachschlag aus, Foto: Sutton
Vor den Kameras holten Horner & Vettel zum Nachschlag aus, Foto: Sutton

Manch einem im Fahrerlager stieß das übel auf und nicht wenigen ging dabei durch den Kopf: "Junge, hast du das heute wirklich nötig?" Vettel hätte es eigentlich nicht. Doch der ganze Umgang mit seinem Erfolg in Brasilien hatte einen mehr als faden Beigeschmack, fehlte bei diesen Aussagen danach doch einfach die Demut vor der Größe des Moments. Jacques Villeneuve hatte dem 25-Jährigen bereits vor Wochen kindisches Verhalten und mangelnde Reife attestiert. Vettel tat nach Titel Nummer drei leider alles dafür, um zu bestätigen, dass diesbezüglich noch keine Veränderung eingetreten ist. "Ein schlauer Mensch hat mir mal gesagt, dass ein Sieg nach einem Sieg das schwierigste ist", griff Vettel am Sonntag tief in die Sprüchekiste. Zumindest mit seinem Verhalten in Sao Paulo hat er diesen an der Sympathiefront der Branche gehörig verspielt.

Dass das Rennen kein einfaches war, daran waren wieder einmal alle anderen schuld. Bruno Senna, Felipe Massa, Mark Webber... alle hatten es scheinbar nur auf den Heppenheimer abgesehen. Dass sein eigener Teamkollege ihn im Rennen einmal passieren ließ und in einer zweiten brandgefährlichen Situation bei der Anfahrt zum Senna S freiwillig von der Strecke fuhr, um in jedem Fall eine Berührung zu vermeiden, blieb Vettel verborgen. Webber berichtete nach dem Grand Prix, wie er seinen eigenen Vorteil hinter die Interessen des Teams zurücksteckte. "Ich konnte aufholen und es ging für mich gut nach vorne - dann kam ich aber auf die weiße Linie, als ich mich im Dreikampf von Sebastian weghalten wollte."

Vettel sah sich in die Mauer gedrängt - das Bild zeigt etwas anderes, Foto: Sutton
Vettel sah sich in die Mauer gedrängt - das Bild zeigt etwas anderes, Foto: Sutton

Dieser hatte nach dem Rennen trotzdem nur Kritik für den Australier übrig. "Mein Start war gut, aber Mark hat mich an die Seite gedrängt und dadurch verlor ich Positionen", lautete Vettels Einschätzung der Zusammenarbeit mit seinem durchaus hilfsbereiten Stallgefährten. Dass Webber am Start nirgends hinkonnte, ohne andernfalls eine Kollision vor Kurve eins zu riskieren, die in erster Linie eines bedeutet hätte - nämlich Gefahr für Vettel selbst - ignorierte er. Passend zur Einstellung des Piloten ging man im Team auch mit dem nächsten Streitfall um - Selbstreflektion: Fehlanzeige. "So etwas Dummes, was der Senna da gemacht hat", sagte Red-Bull-Teamchef Christian Horner mit Blick auf den Vorfall in Kurve vier, der das Rennen des späteren Weltmeisters beinahe schon nach wenigen Metern beendet hätte.

Schuldzuweisungen en masse

Mit dem Williams von Bruno Senna war er aneinander geraten, dabei wurde Vettel umgedreht und sein RB8 leicht beschädigt. Für Red Bull war die Schuldfrage eine klare Sache, frei nach dem Motto: 'Dass sich überhaupt jemand erdreistet bei einem Autorennen einen WM-Führenden anzugreifen...' In einer Videosimulation der britischen BBC stellte sich die ganze Angelegenheit dann aber schon deutlich anders dar. Aus der Vogelperspektive ist durchaus zu erkennen, dass Vettels Linienwahl im Vergleich zu Sennas die weitaus ungewöhnlichere ist und er die Kurve stärker schneidet. Für Ex-Pilot und Experte Alan McNish, der auch als Rennsteward für die FIA fungiert, stand fest: "Bruno war auf der richtigen Linie - Vettel kommt rüber und schneidet diese."

"Ich denke, dass er nicht realisiert hat, dass innen noch jemand ist." Allgemein fand der Schotte: "Meiner Meinung nach war Sebastian am Anfang ein bisschen zu vorsichtig." Auch das kostete ihn auf den ersten Metern Plätze - und nicht Webber. Ein weiterer Beleg für diese Einschätzung: Bereits bei der Anfahrt zur verhängnisvollen vierten Kurve wurde Vettel um ein Haar von Kimi Räikkönen torpediert. Mit einer starken Reaktion konnte der Finne seinem Freund gerade noch ausweichen - wohl wissend, dass es sich um den WM-Aspiranten handelte, der aus Übervorsicht ganz einfach früher als alle anderen gebremst und sich dadurch selbst erst in diese gefährliche Lage gebracht hatte, entschied sich der Lotus-Pilot für den Weg ins Gras.

Vettel & Senna berühren sich - Räikkönen auf Abwegen, Foto: Sutton
Vettel & Senna berühren sich - Räikkönen auf Abwegen, Foto: Sutton

In Suzuka ging eine ähnliche Situation mit Fernando Alonso ganz anders aus... auch das zeigt, wie viel Glück oder Pech in Bruchteilen von Sekunden diese Saison wirklich im Spiel war. Noch einmal mit Blick auf das, was danach passierte, gab es bei den Experten eigentlich keine zwei Meinungen. Vettel trug an der Senna-Kollision sehr wohl eine Mitschuld. Alexander Wurz erklärte gegenüber Motorsport-Magazin.com: "Diese Situation muss man auch aus der Helikopterperspektive betrachten, denn zu dem Zeitpunkt als Bruno seinen Bremspunkt wählt, konnte er nicht mehr anders." Der Fahrerberater glaubte: "Vettel startet normalerweise immer von vorne und kennt daher die Gesetze im Mittelfeld vielleicht nicht so gut. Er hat die Tür ein bisschen zugemacht."

Ferrari verzichtet auf Protest

Unfallgegner Senna nannte noch ein ganz anderes Argument: "Dass die Stewards nicht einmal eine Untersuchung eingeleitet haben, wo heutzutage doch jede Kleinigkeit untersucht und bestraft wird, zeigt mir, dass auch sie der Meinung waren, dass das ein ganz normaler Rennunfall war." Besonders entscheidungsfreudig war die Rennleitung am Sonntag auf dem Autodromo Carlos Pace ohnehin nicht. Auch das ganze Wirrwarr um Vettels Überholmanöver unter gelber Flagge konnte nicht restlos aufgeklärt werden. Zum einen war da das Manöver gegen einen HRT, das der Deutsche zwar vor der imaginären Linie auf Höhe des Flaggensignals durchzog, sehr wohl aber bei bester Sicht auf das gelb aufblinkende Licht - ein Grenzfall, aber letzten Endes möglich, weil es vor dem Flaggenposten stattfand.

Wesentlich enger war da schon die Aktion mit Kamui Kobayashi - zunächst wurde dem Duo die gelb-rot gestreifte Flagge gezeigt, in Verbindung mit der gelben. Anschließend wurde mit einem grünen Signal die Fahrt wieder freigegeben. Kurz darauf leuchtete am Streckenrand jedoch wieder ein gelbes Licht auf: In dem Augenblick, wo Vettel am Japaner vorbeiging - erst kurz hinter der imaginären Linie - war also eigentlich schon wieder Überholverbot. Nun will niemand den Piloten in diesem Chaos einen Vorwurf machen: Faktisch wäre es für Ferrari aber durchaus möglich gewesen, einen großangelegten Protest einzuleiten. Weder das Team aus Maranello noch die FIA wollten jedoch eine WM-Entscheidung am grünen Tisch, wird Letzterer doch seit Jahren ohnehin schon eine Einstellung pro Ferrari nachgesagt.

Vettel im Sandwich zwischen Webber & Kobayashi, Foto: Sutton
Vettel im Sandwich zwischen Webber & Kobayashi, Foto: Sutton

Unterm Strich gereichte Vettel das nun sogar zum Vorteil, denn diskutabel war sein riskantes Verhalten unter gelb allemal. Seitens Ferrari verzichtete man aber auf den Einspruch. Das hierzulande oftmals lancierte Ammenmärchen vom unfairen Betrügerteam aus Italien ist dementsprechend lächerlich und sollte im Sinne der Objektivität durchaus einmal hinterfragt werden. Ferrari lotet die Regeln im sportlichen Bereich maximal aus, steht aber offen und ehrlich dazu - Red Bull macht selbiges im technischen Bereich, wohingegen es mit der Transparenz dort schon eine ganz andere Sache ist. Mehrmals geriet man heuer ins Visier der Regelhüter: In Monaco musste man die Löcher im Unterboden stopfen, nach Hockenheim das mehr als grenzwertige Motoren-Mapping ändern. Auch die Dämpfereinstellungen am Fahrwerk waren für die Sportbehörde ein Stein des Anstoßes.

Fremde Hilfe nur für Andere?

Den bekannten Spruch vom Glashaus muss man nicht weiter ausführen. Ferrari nach dem Bruch des Getriebesiegels an Massas Boliden in Austin, der völlig regelkonform war, den schwarzen Peter zuzuschieben, scheint vor dem Hintergrund der eigenen Verhaltensweisen mehr als nur schlechter Stil, sollte man sich bei Red Bull doch einfach nur glücklich schätzen, jetzt feiern zu dürfen. Die oftmals zur Schau gestellte Grundeinstellung, dass auf dem Weg nach vorne immer nur die Anderen alles geschenkt bekommen, ist de facto unwahr. Beispiel: Runde 65, Interlagos - Michael Schumacher lässt Vettel ohne Gegenwehr passieren. Warum eigentlich? Weil beide Freude sind? Teaminterne Platzwechsel werden ungern gesehen, sind verpönt, mittlerweile aber legal - dass ein Konkurrent im großen Millionenspiel freiwillig aus dem Weg fährt, um zu helfen, ist hingegen mehr als sonderbar und ein Streitfall.

Die Bild-Zeitung zitierte Schumacher anschließend mit den Worten: "Ich habe gerne Platz gemacht." Rein sportlich betrachtet harter Tobak. "Den WM-Kampf sollten Sebastian und Fernando unter sich ausmachen", sagte der 43-Jährige, nur um sich in Bezug auf seine mangelnde Gegenwehr im folgenden Satz selbst zu widersprechen: "Aber für einen Kumpel wie Seb macht man das gerne." Es war die letzte von vielen Unsportlichkeiten in der großen Karriere des Michael Schumacher und im Ausland schüttelte man nur den Kopf. Jamie Alguersuari spottete nach dem Rennen im spanischen TV: "Ich wäre in Sao Paulo auch gerne im Mercedes gefahren und hätte dann Alonso vorbeigelassen, damit er seinen dritten Titel holt..."