Optisch sind sie es schon - doch viele Faktoren deuten darauf hin, dass McLaren nicht nur in der Schönheitswertung 2012 die (wohlgemerkt stufenlose) Nase vorne haben wird. Siegkandidat ist das Team aus Woking immer - in diesem Jahr darf man die Briten aber auch getrost als Favoriten auf den WM-Titel nennen. Der Winter lief heuer viel reibungsloser als in der Vorsaison und selbst da konnte man Red Bull ganz vorne noch gefährlich nahe kommen. Wenn man es erst einmal schafft, von Beginn an bei der Musik zu sein und keinem Rückstand hinterherhecheln zu müssen, wird es schwer zu verhindern sein, dass die Chrompfeile am Ende nicht auch die gleichfarbige WM-Trophäe in den Himmel stemmen.

Der problematische Jahresauftakt 2011 scheint wie weggeblasen - weitreichende Grundsatzprobleme, wie damals mit dem Auspuff, sind dieser Tage eine Fehlanzeige. Zum letzten Test in Barcelona brachte man noch ein weiteres großes Update-Paket mit. Zwar trat dann zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ein Hydraulik-Problem auf und man verlor einige Zeit auf der Strecke. Da man sich sonst aber voll auf die Zuverlässigkeit des Autos verlassen konnte, sollten die wenigen verlorenen Kilometer nicht allzu schwer ins Gewicht fallen. Trotz des kleinen Rückschlags stellte Jenson Button fest: "Wir sind jetzt viel glücklicher damit, wo wir stehen." McLaren spürt: Man ist gut aufgestellt.

Jenson Button wagt in Sachen Rennstratgie immer den Blick über den Tellerrand - kommende Saison soll ihm das zum Titel verhelfen, Foto: Sutton
Jenson Button wagt in Sachen Rennstratgie immer den Blick über den Tellerrand - kommende Saison soll ihm das zum Titel verhelfen, Foto: Sutton

Das Team: Bei den Kernkompetenzen setzt McLaren bekanntlich auf Konstanz. Daran hat sich auch 2012 nichts geändert. Prominenten Zuwachs hat die Truppe um Teamchef Martin Whitmarsh mit Ex-Williams-Technikchef Sam Michael bekommen, der beim Traditionsteam zukünftig als Sportdirektor fungiert. Der Clou: Michael begleitete McLaren nach seinem Williams-Abschied bereits bei den letzten Rennen 2011, hat seine Eingewöhnungsphase also schon hinter sich und kann sofort als vollwertiges Führungsmitglied ins Geschehen eingreifen. Ein reibungsloser Ablauf sollte somit auch intern gewährleistet sein.

Die große Stärke des Teams ist seit jeher die starke Entwicklungsarbeit im klinisch sauberen Technology Centre im Süden Londons. Mit dem Wissen um die eigene Stärke in diesem Bereich, geht man selbstbewusst in die Saison. Auf Prognosen wollte man vorab trotzdem verzichten. "Ob wir jetzt Schnellster oder Zweitschnellster oder langsam sind, das weiß ich nicht. Wichtig ist, dass wir gute Fortschritte machen und es sich gut anfühlt", stellte Button klar. Doch gerade die im letzten Jahr demonstrierte Sicherheit, auf etwaige Rückschläge hervorragende Antworten parat zu haben, macht das Team auch 2012 zum ersten Red-Bull-Verfolger und einem brandgefährlichen Titelkandidaten.

Je eher Lewis Hamilton seine Unterschrift unter einen neuen Vertrag setzt desto schneller kehrt im Team wieder Ruhe ein, Foto: Sutton
Je eher Lewis Hamilton seine Unterschrift unter einen neuen Vertrag setzt desto schneller kehrt im Team wieder Ruhe ein, Foto: Sutton

Die Fahrer: Mit Jenson Button hat man die fahrerisch positive Überraschung der Vorsaison in seinen Reihen. Der Weltmeister von 2009 zeigte sich zuletzt in überragender Form und setzte mit seiner Rennintelligenz und überlegten Art und Weise, Rennen erfolgreich zu bestreiten, nicht nur die Konkurrenz von Red Bull gehörig unter Druck, sondern auch Teamkollege Lewis Hamilton. Dieser hatte am Ende das Nachsehen - knüpft Button an seine jüngsten Leistungen an, ist er in einem schnellen MP4-27 heuer Top-Favorit auf den Titel. Hamilton steht dem jedoch eigentlich in nichts nach, besitzt vielleicht sogar den größeren Grundspeed, stünde ihm nicht sein Kopf und hitziges Gemüt ein ums andere Mal im Weg.

Kriegt der McLaren-Pilot diese Baustellen aber in den Griff, dürfte das Team mit einer exzellenten Doppelspitze zur Jagd auf Red Bull blasen. Schlecht stehen die Anzeichen dafür nicht. Hamilton hat den Winter genützt, um abzuschalten, fühlt sich nach eigener Aussage fitter und besser denn je. "Ich habe mich dazu entschieden, mich in diesem Jahr auf die wichtigste Sache zu konzentrieren und das ist das Rennfahren", schlug er bis dato ungewohnte Töne an. Mit seinem neuen Betreuer Didier Coton, der ihn an der Strecke begleiten soll, setzt er zudem auf einen erfahrenen Mann. Des Weiteren soll bald seine Zukunft im Team geklärt und mit McLaren verlängert werden, damit der Fokus dann wieder auf den Erfolg auf der Piste gerichtet werden kann.

Glatt gebügelt: Der MP4-27 kommt im Gegensatz zur Konkurrenz auch ohne hässliche Nase aus, Foto: Sutton
Glatt gebügelt: Der MP4-27 kommt im Gegensatz zur Konkurrenz auch ohne hässliche Nase aus, Foto: Sutton

Das Auto: "Wir haben nicht viele Teile aus dem letzten Jahr übernommen, höchstens ein paar im Benzinsystem", erklärte Chefingenieur Tim Goss gleich bei der Präsentation des neuen MP4-27. Dieser besticht folglich durch Innovationen, ist aber trotzdem ein sehr geradliniges Rennauto. Bestes Beispiel ist die fehlende Stufennase. Als einziges Team neben Marussia war McLaren so mutig, seinem eigenen Konzept nachzugehen. "Wir sind es durchgegangen und haben uns dazu entschieden, bei der Philosophie zu bleiben, die wir haben", verriet Technikdirektor Paddy Lowe. Möglich machte das auch der Umstand, dass man mit dem Chassis bereits seit Jahren tiefer liegt als die Konkurrenz.

"Meiner Meinung nach haben wir durch den Verzicht auch keinen besonderen Clou verpasst. Es ist nicht so, dass das ein Trick oder ein Schlupfloch im Reglement ist, das wir übersehen haben. Wir haben uns nur dazu entschlossen, es nicht so zu machen", demonstrierte Lowe das neue Selbstbewusstsein in Woking. Auch auf der Strecke sei das Feedback von Beginn an positiv gewesen. Button stellte bereits bei der ersten Ausfahrt fest: "Das ist ein Auto, mit dem ich arbeiten kann." Diese gute Basis sei es, was man für eine Weltmeisterschaft brauche. Mit den zusätzlichen Modifikationen, die bei den Tests hinzukamen und voll fruchteten, kann sich McLaren nun auf die angedachte Erfolgsmission begeben: Der erste Titel seit 2008 soll her.

Saisonziel: Weltmeister

PRO: Anders als 2011 hat McLaren bei den diesjährigen Wintertestfahrten sich keine Blamage gegeben. Zwar sorgten die Rundenzeiten von Lewis Hamilton und Jenson Button nicht für einen Wow-Effekt und auch auf die schlagzeilenträchtige Stufennase verzichtete McLaren, dafür überzeugte der MP4-27 mit konstanten und schnellen Rundenzeiten. Im Vergleich zu 2011 spulte McLaren 1500 Kilometer mehr ab - darauf lässt sich aufbauen und wenn McLaren eines kann, dann ein Auto schnell weiterentwickeln. Zudem hat das Team mit Button und Hamilton zwei ehemalige Weltmeister im Stall, die beide mit einem siegfähigen Auto erneut den Titel holen können. (Kerstin Hasenbichler)

CONTRA: Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Jenson Button fährt wieder so gut wie 2011 und Lewis Hamilton findet wieder voll zu seiner Form, während der McLaren so stark ist, wie es sich angedeutet hat. Dann fahren beide Piloten um die Weltmeisterschaft, statt einer eindeutigen Situation entsteht ein teaminterner Zweikampf um den Titel. Steht McLaren zu seiner Philosophie und lässt beide frei fahren, kann es zu Spannungen kommen. Doch das ist noch nicht das primäre Problem, die Fahrer könnten sich auch gegenseitig Punkte wegnehmen, während in einem anderen Team nur ein Fahrer punktet. Das könnte zu einem echten Contra werden. (Falko Schoklitsch)