Zielgerichteter Blick, fein säuberlich sortierte Ausdrucke unter dem Arm und wenig beachtet - während Vettel, Alonso, Brawn und Newey im Rampenlicht gefeiert werden, fristen die Männer hinter den Erfolgen von Fahrern und Teamchefs eher ein Schattendasein. Oder haben Sie schon einmal den Namen James Vowles in einer Schlagzeile gelesen? Aus Sicht der Teams ist das gar nicht so ungewollt, immerhin möchte niemand seine Rennentscheidenden Strategen ins Schaufenster für die Konkurrenz stellen.

Doch in dieser Saison ist alles anders. Wenn 24 Fahrer und 12 Teams über 80 Mal an die Box fahren, um Reifen zu wechseln, kommt an den Chefstrategen niemand mehr vorbei - denn oft behalten nur sie während des Rennens den Überblick, wer mit wie vielen Stopps auf welchem Platz liegt. "Zum Zuschauen macht es unheimlich viel Spaß, man muss sich nur höllisch konzentrieren, damit man nichts verpasst", urteilt Boxengassenreporter Kai Ebel über die neue Formel Strategie. "Aber das ist besser, als kurz nach dem Start einzuschlafen."

Schachspieler an der Boxenmauer

Diese Gefahr besteht für die Schachspieler an der Boxenmauer nicht. Ihre Arbeit beginnt sogar schon lange, bevor die Bildschirme und Hochsitze in den Schaltzentralen in der Boxengasse aufgebaut werden. Bereits am Dienstag oder Mittwoch vor dem Rennwochenende stehen die ersten Strategieüberlegungen an - welche Benzinmenge wird benötigt, welche Strategie ist im Qualifying und im Rennen die beste? Als Grundlage dienen Erfahrungswerte aus den Vorjahren sowie Computerberechnungen mit Daten aus dem Simulator. "Mit der Hilfe unserer Software erstellen wir über 100.000 verschiedene Rennszenarien, bevor sich überhaupt ein Rad an der Strecke gedreht hat", erklärt James Vowles, Chefstratege bei Mercedes GP.

Während die Piloten auf der Strecke ihre Runden drehen überwachen die Teams alles am Kommandostand, Foto: Sutton
Während die Piloten auf der Strecke ihre Runden drehen überwachen die Teams alles am Kommandostand, Foto: Sutton

Ein solches Szenario berücksichtigt alle denkbaren Variablen für jeden Aspekt eines Rennens - von der Leistung der Boxencrew bis zu den Fähigkeiten der Fahrer. "Die Leistung eines Fahrers unterscheidet sich von Kurve zu Kurve und verändert sich durch verschiedene Bedingungen", sagt Vowles. So sind manche Fahrer Regenspezialisten, andere wahre Reifenflüsterer - all das fließt in die Computerprogramme ein. Im Laufe des Wochenendes werden weitere Daten gesammelt und die Piloten darüber informiert, wie sich die Reifenperformance verändert und was von den Hauptkonkurrenten zu erwarten ist, denn auf die Gegner achten die Taktiker genauso intensiv wie auf das eigene Team. "Im letzten Jahr haben wir vielleicht 20 Minuten darüber diskutiert, welche Strategie wir verwenden wollen", erinnert sich Vitaly Petrov.

In diesem Jahr fallen die Briefings auch bei Renault viel länger aus - die Bedeutung der Strategie hat immens zugenommen. Die Grand Prix verlaufen dynamischer und unvorhersehbarer. Die Teams müssen auf viele Faktoren achten, unter anderem den starken Reifenabbau und den Verkehr auf der Strecke. "Man muss mehr überlegen, ob man an die Box geht oder nicht", sagt Petrov. Vowles stimmt zu: "Die Gelegenheit mag nur für fünf Sekunden vorhanden sein und kann sich dann schnell wieder in Luft auflösen." Den Strategen bleibt nur wenig Zeit, um die richtige Entscheidung zu treffen. Das erhöht den Druck und lastet den Entscheidungsträgern mehr Verantwortung auf.

"Im Durchschnitt reagieren wir innerhalb von fünf Sekunden auf einen Zwischenfall", sagt Vowles. Schon im Vorfeld bereitet er Szenarien für einen unplanmäßigen, frühen Boxenstopp, etwa um einen Reifen oder Frontflügel zu wechseln, oder eine Safety-Car-Phase vor, um jederzeit einen Plan B in der Hinterhand zu haben. Sollte der Ernstfall eintreten, wird zunächst analysiert, welches Szenario darauf passt. "Das dauert rund zwei Sekunden", so Vowles. "Dann bestimmen wir den Grad des Zwischenfalls und schätzen die Konsequenzen ein. Uns bleibt eine Sekunde, um das den Renningenieuren mitzuteilen, die es dann an die Fahrer weitergeben - das dauert weitere zwei Sekunden."

Software besonders wichtig

Aber wie kann das Team aus über 100.000 Möglichkeiten binnen fünf Sekunden die richtige auswählen? "Wir verlassen uns sehr stark auf unsere Software", erklärt Vowles. Von den 100.000 Szenarien werden viele bereits nach dem Start aussortiert. Danach berechnet der Computer die möglichen Stoppzeitpunkte der Konkurrenten, um so einerseits reagieren zu können und andererseits zu viel Verkehr aus dem Weg zu gehen.

"Manchmal braucht man natürlich auch etwas Glück", gibt Vowles zu. Aber eine detaillierte und gewissenhafte Vorbereitung seien das A und O. "In der Formel 1 gilt: Sich nicht vorzubereiten, bedeutet, einen Fehlschlag vorzubereiten." Die Strategen müssen die Taktik wie ein Fußballtrainer im Vorhinein zurechtlegen. "Der Unterschied zu einem Fußball-Trainer ist, dass er die Zeit besitzt, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen", vergleicht Vowles. "In der Formel 1 geht alles viel schneller und die Zeit, die uns für die Entscheidungen bleibt, ist viel kürzer."

Eine der wichtigsten Komponenten, an denen sich die Rennstrategie ausrichtet, ist die Startaufstellung. "Wenn man aus der ersten Reihe startet, kann man eher die optimale Strategie umsetzen, weil man keine anderen Autos vor sich hat", sagt Sam Michael, noch Technischer Direktor bei Williams. In dieser Saison kommt dabei erschwerend die Reifensituation hinzu: Aufgrund der stark abbauenden Pirelli-Pneus sparen die Teams im Qualifying so viele Reifensätze wie möglich, um im Rennen frische Reifen einsetzen zu können - das kann unter Umständen sogar einen verschenkten Startplatz ausgleichen. Sebastian Vettel warnt jedoch vor diesem Pokerspiel: "Wer Spaß haben möchte, sollte von hinten starten. Wer gewinnen möchte, sollte vorne losfahren."

Nach seinem Ausfall in Abu Dhabi gesellte sich auch Sebastian Vettel einmal an die Boxenmauer um den Strategen über die Schulter zu schauen und zu lernen, Foto: Sutton
Nach seinem Ausfall in Abu Dhabi gesellte sich auch Sebastian Vettel einmal an die Boxenmauer um den Strategen über die Schulter zu schauen und zu lernen, Foto: Sutton

In diesem Zusammenhang sind die Reifen momentan das wichtigste Einzelteil eines Formel-1-Autos, obwohl die Aerodynamik natürlich weiterhin eine entscheidende Rolle spielt. Vowles bestätigt: "Wenn man einen Reifen falsch nutzt, verliert man nicht nur Zehntel, sondern Sekunden." Der unterschiedlich ausgeprägte Reifenverschleiß der verfügbaren Mischungen bestimmt die Zeitpunkte der Boxenstopps. Gleichzeitig müssen die Teams den Einfluss auf die Fahrzeugbalance, das Auftreten von Graining und Blasenbildung sowie die Aufwärmung der Reifen berücksichtigen. Ein durchschnittlicher Boxenhalt dauert drei Sekunden, für die Strategen zählt jedoch die gesamte Verweildauer in der Boxengasse - von der Ein- bis zur Ausfahrt.

Keinen Spielraum für Fehler

Ein weiterer Schlüsselfaktor ist die Benzinmenge. Pro zehn kg Benzin steigt die Rundenzeit um drei bis vier Zehntel. "Die Formel 1 ist so präzise, dass es keinen Spielraum für Fehler gibt", mahnt Vowles. Eine falsche Benzinmenge könne schnell zwei Sekunden pro Runde kosten. Dabei verändern sich die Einflüsse auf den Benzinverbrauch ständig. Wenn ein Reifen aufhört zu körnen oder die Streckentemperatur steigt, verbessert oder verschlechtert sich auch die Performance. "Wenn wir den Benzinverbrauch falsch kalkulieren, könnte das Auto viel zu schwer sein oder es könnte zu wenig Sprit an Bord haben und dann nicht die maximale Leistung abrufen können."

Letzteres Problem bekam Mercedes GP in Shanghai schmerzhaft zu spüren. Das Team schätzte nach den Trainings den Speed des Silberpfeils falsch ein und musste die Fahrer im Rennen einbremsen, um über die Runden zu kommen. Nico Rosberg, der das Rennen zwischenzeitlich sogar angeführt hatte, war danach zunächst sauer, unter anderem weil er nicht komplett über die Situation informiert war. Das ist aber ein Einzelfall. Die Strategieentscheidungen werden normalerweise stets mit den Piloten besprochen. Während des Rennens herrscht ein stetiger Funkkontakt zwischen den Fahrern und ihren Renningenieuren. So werden Informationen über die Reifen ausgetauscht, die Fahrer darauf hingewiesen, wie sie die Pneus im Notfall schonen können und welche Rundenzeiten und Benzinziele sie zu diesem Zeitpunkt einzuhalten haben.

Sollte es zwischen Fahrer und Team unterschiedliche Ansichten geben, hat der Stratege das letzte Wort. "Der Fahrer hat nicht die Informationen, um so eine Entscheidung zu treffen", erklärt Sam Michael. "Er ist ganz darauf konzentriert, schnell zu fahren." Die einzige Ausnahme sind Regenrennen - dann vertrauen die Teams ganz dem Feedback ihrer Piloten, immerhin sind sie als einzige bei diesen oftmals miesen Bedingungen auf der Strecke unterwegs. Gegen diese echten Fahreindrücke können auch 100.000 Computerszenarien nicht ankommen. Damit verdienen sich die Formel-1-Piloten eben doch ihren Teil des Rampenlichts.

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