Kurz zurück an den Anfang: Wie groß war die Herausforderung für Pirelli, nachdem der Deal mit der Formel 1 unter Dach und Fach war?
Paul Hembery: Die erste große Herausforderung war die Zeit. Wir hatten ja nur acht Monate von Juni 2010 bis Februar 2011. Dann hatten wir kein aktuelles Auto, kannten nicht das Verhältnis des 2009er zum 2010er-Auto, wir mussten eine Fabrik bauen, ein Logistikteam und ein Ingenieursteam aufbauen, eine Datenbasis errichten.

Gab es je Zweifel, ob das überhaupt zu schaffen sein?
Paul Hembery: Wir haben immer daran geglaubt, dass wir fertig werden, aber das heißt nicht, dass es nicht Momente in den acht Monaten gab, in denen man sich schon echte Sorgen gemacht hat. Bei acht Monaten hat man keinen Spielraum, das heißt, es war schwierig, wenn es Rückschläge gab. Und die gibt es immer, das können Kleinigkeiten sein. Man will jemanden verpflichten, dann unterschreibt der doch nicht, oder geht danach wo anders hin, weil er ein noch besseres Angebot bekommen hat. Oder beim Fabrikbau fehlt ein kleines Teil, weil irgendein Zulieferer es vergessen hat.

Was war die größte Herausforderung?
Paul Hembery: Das Produkt sicher zu machen, das ist das einzige, was wirklich zählt. Ich habe mir keine Sorgen über die Performance gemacht, die ist für alle gleich. Aber Probleme bei der Sicherheit, das ist das einzige, was wirklich negativ ist für das Image eines Reifenherstellers.

Wart ihr beim ersten Test in Abu Dhabi, da wo ihr sein wolltet?
Paul Hembery: Wir waren erst mal überrascht, wie schnell die Autos waren. Sie hatten viel mehr Downforce, das war ein großer Schock, aber ansonsten waren wir ungefähr da, wo wir dachten.

Das schwarze Gold der Formel 1 besteht aus Gummi, Foto: Sutton
Das schwarze Gold der Formel 1 besteht aus Gummi, Foto: Sutton

Dann gab es bei den Tests Anfang 2011 viel Kritik der Fahrer, das ginge alles nicht, die Reifen hielten nicht, man würde zehn Boxenstopps brauchen...
Paul Hembery: [lacht] Da sieht man mal, was die Fahrer wissen. Sie sollen ihren Job machen und fahren, sie sind schließlich die besten Fahrer der Welt. Wir kümmern uns um die Reifen. Nein, Scherz beiseite: Damals waren die Temperaturen sehr niedrig, und wir wussten, dass wir mindestens 15 Grad brauchen würden, damit die Reifen einigermaßen funktionieren würden. Dann war es natürlich ein neuer Weg, wir wollten absichtlich mehr Reifenverschleiß. Ich denke, es war eine Kombination: Die Kälte hat die Effekte verstärkt - und die Fahrer waren noch etwas ganz anderes gewöhnt, Reifen, mit denen man ein ganzes Rennen lang hätte durchfahren können.

Das ging für sie von einem Extrem ins andere. Wir waren immer sehr pragmatisch, haben zu den Kommentaren der Fahrer gar nichts gesagt, sondern weiter mit den Ingenieuren der Teams zusammengearbeitet, die sehr kooperativ waren, uns unterstützt haben, die Panik der Fahrer nicht geteilt haben. Wir haben uns auf unsere eigenen Daten verlassen, wir wussten, wenn es wärmer ist, sieht das alles anders aus. Die Wirkung in der Öffentlichkeit war natürlich für uns ein bisschen frustrierend, andererseits, im Nachhinein gesehen, war das alles vielleicht gar nicht so schlecht...

Warum?
Paul Hembery: Weil es uns ins Gespräch gebracht hat. Überall sind auf einmal Diskussionen über die Reifen geführt worden. Die Leute haben gefragt, was ist da los, warum beschweren sich die Fahrer - so konnten wir unser neues Konzept mit mehr Boxenstopps öffentlich vorstellen und erklären. Das wurde dann allmählich auch verstanden. Und jetzt redet niemand mehr über die Panik vom Anfang, die allgemeine Resonanz in den Medien und wohl auch beim Publikum ist positiv.

Bei den Teams war man in Bezug auf die neuen Reifen zunächst skeptisch, Foto: Sutton
Bei den Teams war man in Bezug auf die neuen Reifen zunächst skeptisch, Foto: Sutton

Die Frage nach dem Image von Pirelli als Hersteller, wenn ein Reifen nur kurz hält – gab es die?
Paul Hembery: Ja, wir haben uns diese Frage natürlich gestellt und darüber nachgedacht. Deshalb denke ich, dass es für uns als Unternehmen ein mutiger Schritt war, uns dieser Herausforderung zu stellen. Natürlich hätte es auch den einfachen Weg gegeben, einen Reifen zu bauen, der ein ganzes Rennen hält. Aber dann hätten wir wahrscheinlich den Deal nicht bekommen. Der Auftrag der FIA lautete eindeutig, bringt uns etwas, das solche Effekte bringt wie damals in Kanada, als alle so begeistert waren. Könnt ihr das? Und wir haben gesagt, ja, das geht, wir versuchen es. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Ross Brawn, der sehr besorgt war, gefragt hat, wie wollt ihr das machen, doch nicht mit Graining oder Blasenbildung auf den Reifen? Und ich habe ihm geantwortet, nein, nein, wir haben da schon ein paar Konzepte.

Er hat mich zweifelnd angeschaut, ich habe ihn noch mal beruhigt, wir hätten schon Ideen, er solle uns ruhig machen lassen. Das haben wir getan. Sicher gibt es immer noch ein paar Leute, die meinen, dass das negativ für unser Image sei - aber ganz ehrlich: Ein Reifen, der ein ganzes Rennen hält, 300 Kilometer - das sagt doch im Vergleich zu einem Straßenreifen, der zigtausende Kilometer halten muss, auch überhaupt nichts. Selbst die andere Werbung, die manche Hersteller mit ihren Reifen aus Langstreckenrennen machen, mit 500 bis 600 Kilometern, ist doch für die Straße eigentlich irrelevant. Wir verkaufen jedenfalls im Moment mehr Straßenreifen als je zuvor.

Hängt das mit dem F1-Engagement zusammen?
Paul Hembery: Ich würde da in meiner Rolle als F1-Verantwortlicher natürlich gern sofort ja sagen, aber es ist ein bisschen schwierig, so etwas sicher festzustellen und mit Daten zu untermauern. Was wir wissen, ist, dass unser globaler Bekanntheitsgrad dramatisch ansteigt - und das war eines der Hauptziele unseres F1-Engagements. Wir wissen auch, dass die Fans uns immer wieder Komplimente machen für den guten Job, den wir gemacht haben, dadurch, dass wir die Rennen interessanter gemacht haben.

Sie sehen, dass wir dem Sport einen zusätzlichen Wert gegeben haben, und das überwiegt bei weitem die paar einzelnen negativen Kommentare, von wegen, unsere Reifen würden nicht lange genug halten. Die kann ich auch leicht mit der Gegenfrage kontern: "Was wollt ihr - soll ich zum nächsten Rennen Reifen mitbringen, die die komplette Distanz halten? Und dann beschwert ihr euch wieder, dass die Rennen zu langweilig sind."

Wäre das überhaupt möglich?
Paul Hembery: Ja klar, wir können das, wir hatten das von Anfang an vorbereitet. Wir hatten ein Back-up, wenn wir nach den ersten Rennen festgestellt hätten, dass die öffentliche Meinung zu aggressiv gewesen wäre, hätten wir über Nacht zurück wechseln können auf einen Reifen wie früher. Wir mussten ja vorbereitet sein, für den Fall, dass wir die Situation vielleicht doch falsch eingeschätzt hätten, dass die Rennen nicht interessanter geworden wären. Wir sind schließlich ein professionelles Unternehmen, wir mussten alle Möglichkeiten abdecken. Das erste Problem war, dass die Reifen zu lange gehalten haben, da haben wir gedacht, mein Gott, damit können wir ja ein 24h-Rennen fahren!

Hat sich je ein Fahrer für die heftige Kritik im Vorfeld entschuldigt?
Paul Hembery: [lacht] Was glaubst du? Nein, aber wir warten da auch nicht drauf... Aber die Teams, die haben uns wirklich gedankt, auch die F1-Verantwortlichen, allen voran Bernie Ecclestone. Der sagt mir, lasst das bloß so, meinetwegen haben wir vier oder fünf Stopps im Rennen, Hauptsache, es tut sich was. Für Kanada waren zum Beispiel die TV-Zuschauerzahlen in England um eine Million höher als letztes Jahr. Wir arbeiten eng mit allen zusammen, wir sind Partner der Teams, wir fragen sie, was sie wollen, wir arbeiten gemeinsam daran, auch im Bereich der Promotion, den Sport noch besser und attraktiver zu machen.

Am Ende war man bei Pirelli stolz auf die gelungene Arbeit, Foto: Pirelli
Am Ende war man bei Pirelli stolz auf die gelungene Arbeit, Foto: Pirelli

Wie sehen die Pläne für die Zukunft aus?
Paul Hembery: Wir beginnen jetzt schon mit der Entwicklung der Reifen für 2012, weil wir Ende August den Teams die entsprechenden Daten vorlegen müssen. Da wird es noch einmal Schritte nach vorne geben, ein bisschen Feintuning muss man ja immer betreiben, Veränderungen in Konstruktion und Mischungen, ohne natürlich das erfolgreiche Grundkonzept aus den Augen zu verlieren. Aber wir wollen die Performance der Reifen weiter verbessern, wir arbeiten in eine Richtung, die ich "auf möglichen Wettbewerb ausgerichtet" bezeichnen würde.

Also Reifen, die wir auch verwenden könnten, wenn es plötzlich doch einen Wettbewerber gäbe. Man muss auf alles vorbereitet sein, man weiß ja nie, was 2013 passieren wird, wir müssen 2012, das Ende des Concorde Agreements, abwarten. Also müssen wir diese Gelegenheit nutzen, unser technisches Know-How weiter zu pushen. Wir wissen ziemlich genau, auf welchem Level die früheren Hersteller zu Hochzeiten des Reifenkriegs waren, und das sind unsere Zielvorgaben.

Gibt es Fahrer, die sich besonders für Reifen interessieren?
Paul Hembery: Jeder Fahrer hat eine andere Einstellung. Aber manche wollen alles ganz genau wissen, damit angefangen, wie die Reifen konstruiert und hergestellt werden. Gerade zwei Deutsche sind da ganz vorne dran, was das Interesse angeht, Sebastian Vettel und Michael Schumacher. Und gerade die Fahrer, die früher noch die Zeiten des Reifenkriegs mitbekommen haben, wissen sehr viel in diesem Bereich. Für uns ist das natürlich auch stimulierend, wenn sie sich so engagieren.

Das Interview mit Paul Hembery stammt aus der Printausgabe des Motorsport-Magazins. Mehr Technikhintergründe, Interviews und Reportagen lesen Sie im Motorsport-Magazin - im gut sortierten Zeitschriftenhandel oder am besten direkt online zum Vorzugspreis bestellen: