Ein kalter Wind pfeift durch die Häuserschluchten am Potsdamer Platz. Zitternd stehen wir auf einem eigens in einer Ecke errichteten Podest. Gelegentlich ertönt ein Schlagschrauber. Doch die lautesten Geräusche sind das Klappern von Zähnen und das Aneinanderreiben von eiskalten Händchen. Die klirrende Berliner Kälte scheint der passende Rahmen für die Präsentation des neuen McLaren-Mercedes MP4-26 zu sein, der seinen Schöpfern in den folgenden Testwochen regelmäßig kalte Schauer über die Rücken jagen sollte.

Technikdirektor Paddy Lowe spricht später sogar vom schlimmsten Winter seit 20 Jahren. "Wenn ihr wirklich wüsstet, wie schlecht das Auto im Winter war... mit Glück schaffte man zehn Runden am Stück", erinnert sich Lewis Hamilton mit Schaudern. Dabei schien der Chrompfeil Anfang Februar bestens für die Stierjagd bestückt: der stärkste Motor, das beste KERS und ein Oktopus unter der Haube!

So tauften die Ingenieure das ebenso revolutionäre wie unzuverlässige Auspuffsystem, dessen Rohre ein ähnlich komplex verschlungenes Wirrwarr bildeten wie die unzähligen Tentakel eines Seeungeheuers aus 20.000 Meilen unter dem Meer. Aber anstatt damit erfolgreich den Diffusor anzublasen, verlieh Teamchef Martin Whitmarsh dem Oktopus kurz vor Saisonbeginn den Todesstoß - der Beginn einer erstaunlichen McLaren-Auferstehung...

Ausgangspunkt

Zu Teamchef-Zeiten von Ron Dennis stand bei McLaren Perfektion an erster Stelle. Als das Team das neue Auto bei der Präsentation vor den Augen der Sponsoren, Journalisten und Fans an Ort und Stelle zusammenbaute, ließ das nichts Gutes erahnen. Tatsächlich verwandelte sich der Marketing-Gag bald in einen Albtraum. Bei den Wintertestfahrten fiel McLaren im Vergleich zu Red Bull und Ferrari durch. Die Performance des MP4-26 und der immens große Abstand zur Spitze ließen Erinnerungen an die schwache Saisonvorbereitung 2009 wach werden - damals war der ersehnte Titel schon früh verloren. Bei den Fans begann das große Zittern, im Team begannen die Köpfe zu rauchen.

Weiterentwicklung

Dank der schnellen Weiterentwicklung durfte McLaren 2011 immerhin sechs Saisonsiege feiern, Foto: Sutton
Dank der schnellen Weiterentwicklung durfte McLaren 2011 immerhin sechs Saisonsiege feiern, Foto: Sutton

Nach der Test-Katastrophe schrieben viele Experten das Team ab, doch McLaren bewies, warum es seit Jahrzehnten zur Spitze zählt. Die Lichter im Glaspalast in Woking blieben rund um die Uhr erleuchtet. Das Kunststück gelang - aus dem hässlichen und viel zu lahmen Entlein wurde ein wunderschöner und schneller Schwan. "Sie haben nach den schlechten Testfahrten bis zum ersten Rennen einen sagenhaften Sprung gemacht", stellt Marc Surer fest. Als erster Red-Bull-Verfolger verstand McLaren das Prinzip des angeblasenen Diffusors. Der Oktopus wurde eingestampft und innerhalb von zehn Tagen entwickelten die Ingenieure ein neues Auspuffsystem für den Saisonstart.

Das Risiko zahlte sich aus. Bereits in China stand Lewis Hamilton ganz oben auf dem Podest. Doch neue Wege bringen auch neue Probleme. In Valencia ging McLaren beim Anblasen des Diffusors zu brutal vor und machte sich mit den heißen Auspuffgasen die Hinterreifen kaputt. In Montreal musste das Team einsehen, dass das obere Element des Heckflügels zu groß geraten war. In geöffneter Position stand es schräg im Wind, wodurch das Auto zu viel Luftwiderstand produzierte und auf der Geraden bis zu 10 km/h gegenüber der Konkurrenz verlor. Wieder einmal hieß es in Woking Überstunden schieben - in Spa kam dann erstmals ein neuer Heckflügel zum Einsatz.

Innovationen

Tiefe Einblicke: Das Team arbeitete unermüdlich um den anfänglichen Rückstand aufzuholen, Foto: Sutton
Tiefe Einblicke: Das Team arbeitete unermüdlich um den anfänglichen Rückstand aufzuholen, Foto: Sutton

Selbst nach dem Abgang von Adrian Newey konnte McLaren immer wieder mit innovativen Ideen auftrumpfen. 2010 ließ das Team mit der Entwicklung des F-Kanals die Konkurrenz blass aussehen. Mit dem Oktopus-Auspuff wollte McLaren eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben. Ähnlich wie bei Lotus Renault war der Auspuff weit nach vorne gerichtet. Eine ovale Öffnung an den Seitenkästen sorgte dafür, dass die abgelassenen Abgase in Bodennähe an der Verkleidung vorbeiliefen und die Strömung unterstützten, die in einer Mulde unter den Kühlern Richtung Heck verliefen.

Doch der Auspuff entpuppte sich als völliger Fehlschlag. Neben dem Auspuffsystem verblüffte McLaren 2011 auch mit den markanten, L-förmigen Seitenkästen. Die auf Höhe des Fahrers stark nach oben gewölbten Sidepods sollten das Verbot des Doppeldiffusors wettmachen und sich gleichzeitig positiv auf den verstellbaren Heckflügel auswirken.

Speed

Der Mercedes-Motor im Heck des MP4-26 gilt als Maß der Dinge in der Formel 1. Während Adrian Newey mit seiner extrem kompakten Bauweise oftmals Kompromisse beim Auspuff und der Motorkühlung eingehen muss, lässt McLaren dem Mercedes-V8 mehr Luft zum Atmen. "Deshalb sind sie auf Strecken wie Montreal näher dran, auf denen Leistung und weniger Abtrieb gefragt sind", erklärt Alex Wurz. Mit dem Mercedes-KERS besitzt McLaren eines der besten Hybridsysteme im Feld - trotz ungewohnter Schwierigkeiten zu Saisonbeginn.

Neben dem Motor und KERS hat McLaren noch einen weiteren Trumpf: "Die Stärke von McLaren ist eindeutig, dass sie einen japanischen Reifeningenieur haben und dank ihm die neuen Pirelli-Reifen verstehen", verrät Marc Surer. "Sie bringen die Gummis sofort zum Funktionieren, auch in der Qualifikation. Sie gehen raus und haben sofort Grip." Dank des besseren Verständnisses für das schwarze Gold bringt in dieser Saison auch Reifenflüsterer Jenson Button die Gummis auf Temperatur, der in der Vergangenheit speziell bei den harten Pneus durch seine sensible Herangehensweise immer wieder Probleme hatte.

Zuverlässigkeit

Wenig Kilometer, schwache Rundenzeiten, viele Defekte. Der MP4-26 kämpfte bei seinen ersten Ausfahrten Anfang des Jahres mit zahlreichen Kinderkrankheiten. Die größten Baustellen waren der Auspuff und der Frontflügel. Ungewohnt hart ging das Team mit sich selbst ins Gericht - so kam das Wort "Desaster" durchaus offen aus dem Mund von Lewis Hamilton. Doch bis zum Saisonstart schaffte McLaren die Kehrtwende und zeigte sich unverhofft in alter Stärke. Die Zuverlässigkeit hielt an - nur auf dem Nürburgring streikte die Hydraulik an Buttons Auto.

Die Analyse des MP4-26 stammt aus der Printausgabe des Motorsport-Magazins. Mehr Technikhintergründe, Interviews und Reportagen lesen Sie im Motorsport-Magazin - im gut sortierten Zeitschriftenhandel oder am besten direkt online zum Vorzugspreis bestellen: