Hinsichtlich des Chaos-Potenzials reicht bestenfalls der Norisring an die Kurzversion der britischen Traditionsstrecke Brands Hatch heran. Der heutige vierte Saisonlauf bietet somit unzählige denkbare Szenarien - zwei seien Ihnen hier kurz vorgestellt.

Das erste Szenario

Fiktion... "Das Ausscheiden der englischen Fußball-Nationalmannschaft im Viertelfinale der Fußball-WM hat bei Jamie Green Spuren hinterlassen: Auch am Mittag hat sich der junge Brite noch nicht von der Enttäuschung erholt. Seine tiefe Trauer um die englischen WM-Chancen haben den positiven Nebeneffekt, dass für verkrampfte Gedanken an den bevorstehenden Start und dessen mögliches Misslingen kein mentaler Freiraum mehr bleibt - prompt gewinnt er ihn gegen Tom Kristensen. Souverän scheint der Brite seinen Speed auszuspielen und einem Heimsieg entgegenzufahren.

Findet Mika Häkkinen die richtige Fahrtrichtung?, Foto: Sutton
Findet Mika Häkkinen die richtige Fahrtrichtung?, Foto: Sutton

Als Mika Häkkinen sich jedoch wie im Qualifying in der letzten Kurve dreht und - wenn auch ohne Einschlag - erneut gegen die Fahrtrichtung zum Stillstand kommt, wendet sich das Blatt: Der nach seinem Fehler und den mehrfachen 360-Grad-Drehungen seiner C-Klasse völlig perplexe Finne fährt gegen die Fahrtrichtung und zwingt so das Safety-Car auf die Strecke. Während der Mercedes-Kommandostand unisono versucht, Häkkinen auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen, zieht Audi für Kristensen seelenruhig die taktischen Fäden - und bringt ihm so den Sieg ein."

... und Realität: Anders als in Oschersleben, als nach der Pole Position noch auf das auf den Plätzen zwei bis vier lauernde Mercedes-Trio verwiesen werden konnte, stellt der Sieg in Brands Hatch für Tom Kristensen beinahe schon eine Pflichtübung dar: Noch nie präsentierte sich der Däne den diesmal mannschaftlich guten Leistungen seiner Abt-Audi-Kollegen zum Trotz so konstant und überlegen. Sollte Kristensen den Start gegen Green gewinnen, stünde dem zweiten Saisonsieg kaum noch etwas im Wege - wäre da nicht das Streckenlayout:

Muss Dr. Ullrich seinen Schützling mühsam auf Platz 1 taktieren?, Foto: DTM
Muss Dr. Ullrich seinen Schützling mühsam auf Platz 1 taktieren?, Foto: DTM

So laufen auch Audi und Kristensen Gefahr, sich während der - recht wahrscheinlichen - Safety-Car-Phasen in rennstrategischer Hinsicht vom Gegner überrumpeln zu lassen. Überhastete oder allzu selbstgewisse taktische Reaktionen könnten in unvorhergesehenen Rennsituationen schnell ein Hindernis für den Sieg sein. Angesichts des sechsten Startplatzes Bernd Schneiders wäre jener allerdings für ein Halten oder Ausbauen der Meisterschaftsführung auch möglicherweise nicht unbedingt vonnöten...

Das zweite Szenario

Fiktion... "Die englische Hochsommerhitze präsentiert sich noch gnadenloser als befürchtet. Bei 40 Grad im Schatten fahren die Piloten in die Startaufstellung und überzeugen zunächst mit einem unfallfreien Start. Während an der Spitze Tom Kristensen, Jamie Green und Heinz-Harald Frentzen souverän ihre Runden zu drehen scheinen, kündigt sich das Chaos im Mittelfeld bereits an: Angesichts der dichten Kolonnenfahrt auf der kürzesten je befahrenen DTM-Strecke erleiden die ersten Motoren einen Totalschaden, der extreme Reifenabrieb auf dem kochend heißen Asphalt zwingt zu außerplanmäßigen Boxenstopps.

Behält Jean Alesi als Einziger einen kühlen Kopf?, Foto: Sutton
Behält Jean Alesi als Einziger einen kühlen Kopf?, Foto: Sutton

Anschließend kündigen sich auch in Fahrerreihen erste Konzentrationsschwierigkeiten an: Während sich Kristensen und Green nach ihren jeweiligen Ausritten nur mit Mühe aus dem Kiesbett befreien können, durchfährt Frentzen unter der Schockwirkung des gestrigen Unfalls die erste Kurve regelmäßig unter Benutzung des Speed-Limiters. Nachdem sich die Hälfte des Feldes abseits der Strecke festgegraben hat, schlägt plötzlich die Stunde des Jean Alesi: Der Mercedes-Jahreswagenpilot, aus seiner südfranzösischen Heimat Höchsttemperaturen zur Genüge gewohnt, behält als einziger einen kühlen Kopf - und fährt souverän seinen dritten Englandsieg beim dritten Englandrennen der DTM ein."

... und Realität: So sehr es dem Franzosen zu gönnen wäre: Ein Sieg im 2005er-Mercedes bleibt - wenig überraschend - Fantasie. Während sich die Jahreswagen mit Stern ihren Pendants aus Ingolstadt erstmals in dieser Saison unterlegen zeigten, haben auch die Mercedes-Neuwagen hart zu kämpfen. Die dem A4 DTM eigentlich mindestens ebenbürtige C-Klasse scheint mit der Streckencharakteristik in Kombination mit einem offenbar verbesserungswürdigen Setup auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein.

Konnte man bei Mercedes in Oschersleben noch zumindest darauf hoffen, Tom Kristensen angesichts der eigenen überlegenen Mannschaftsleistung der Piloten in die Zange nehmen zu können, so hat sich das Blatt diesmal gewandt - auch mannschaftlich präsentierten sich die Abt-Audi-Piloten angesichts dreier A4 DTM in den ersten beiden Startreihen tadellos. So könnten auch die taktischen Möglichkeiten der gewieften Stuttgarter Strategen diesmal begrenzt sein - sollten Bruno Spengler und Bernd Schneider keine Raketenstarts gelingen...