An der Spitze des Dakar-Projektes von Volkswagen steht Motorsport-Direktor Kris Nissen. Ein Interview mit dem 49-Jährigen Dänen über Erfolgsgeheimnisse, Strategien und Fahrerpersönlichkeiten.

War das für Sie die härteste Rallye Dakar aller Zeiten?
Kris Nissen: "Es war mit Sicherheit für die Autos und auch für die Fahrer die härteste Dakar, die Volkswagen je bestritten hat. Ich glaube auch die Härteste, die es je gegeben hat. Für das Team dahinter in Sachen physischer Kraftaufwendung dagegen nicht. Denn die Mannschaft hat zuhause eine tadellose Vorbereitung absolviert, der Race Touareg hat allen Bedingungen standgehalten und auch der Service-Plan hat perfekt funktioniert. Das sind Gründe, warum das gesamte Team etwas weniger Stress hatte als die Jahre zuvor. Ich glaube sogar, dass es durch die schonende Fahrweise der Fahrer und die Zuverlässigkeit des Gesamtpakets in dieser Hinsicht die unkomplizierteste Dakar seit unserem Einstieg war. Wir haben uns in den vergangenen Jahren eben permanent weiterentwickelt."

Welchen Erfolg empfinden Sie denn als intensiver: den Doppelsieg von 2009 oder den Dreifacherfolg von 2010?
"Der Sieg vergangenes Jahr hat den Druck vom gesamten Team genommen, die Dakar zu gewinnen. Ich denke aber, dass der Wettbewerb in diesem Jahr härter war. Vor allem durch die X-raid-BMW. Auch die Strecke war in diesem Jahr härter. Deshalb finde ich, dass dieser Sieg noch wertvoller ist. Gerade weil unsere Fahrer bis zum Zielstrich hart um den Gesamtsieg gekämpft haben, empfinde ich den Erfolg 2010 als den wertvolleren."

Kris Nissen mit Carlos Sainz, Foto: VW Motorsport
Kris Nissen mit Carlos Sainz, Foto: VW Motorsport

Volkswagen ist als Titelverteidiger und Favorit ins Rennen gegangen. Inwieweit hat das die tägliche Arbeit beeinflusst?
"Überhaupt nicht. Wir haben vor der Rallye Dakar 2009 ein Lastenheft mit allen Punkten verfasst, die wir optimieren wollten und es konsequent abgearbeitet. Für die Dakar 2010 war dieses Lastenheft deutlich dünner. Das, was wir ändern wollten, haben wir bereits bei den Vorbereitungsrallyes, der "Sertões" und der Silk-Way-Rallye, voll und ganz erprobt. Wir waren perfekt vorbereitet. Das einzige, das wir nicht wussten, war, wie stark die Konkurrenz war. X-raid-BMW war der erwartet starke Gegner, Robby Gordons Hummer dagegen war nicht so stark wie gedacht. Dazu hat sich der Race Touareg als das zuverlässigste Auto erwiesen."

Eine Maßnahme vor der Rallye Dakar war es, zwei Fahrer/Beifahrer-Duos neu zusammenzusetzen. Ausgerechnet diese beiden Teams haben den Sieg am Ende knapp unter sich ausgemacht. Wie entscheidend war diese Neuausrichtung für den Erfolg?
"Ich bin überzeugt, dass unser Neuzugang Nasser Al-Attiyah dem gesamten Team gut getan hat. Der Wechsel von Carlos Sainz zu seinem neuen Beifahrer Lucas Cruz hat nicht nur dank der gleichen Muttersprache viel gebracht, sondern auch für frischen Wind gesorgt. Ich denke, der Gesamtsieg von Carlos Sainz war überfällig, denn schon 2009 war er siegfähig und hat nur durch unglückliche Umstände die Rallye Dakar in Führung liegend verloren. Doch in Zukunft müssen sich auch Carlos Sainz und Lucas Cruz strecken, um gegen Nasser Al-Attiyah und Timo Gottschalk bestehen zu können."

Volkswagen hat ganz unterschiedliche Fahrer und Beifahrer unter Vertrag, die eigene Persönlichkeiten und spezielle Fahrstile pflegen. Ist das in der Entwicklung des gesamten Teams eher von Vorteil oder von Nachteil?
"Für ein Team ist es bei der Dakar nie ratsam, nur auf einen guten Fahrer zu setzten. Denn diese Rennen sind sehr sehr schwierig und unberechenbar. Man muss mehr als ein Eisen im Feuer haben. Wir haben bei Volkswagen mehrere siegfähige Paarungen. Je nach Geländetyp kann es manchmal so aussehen, als ob spezielle Fahrerpersönlichkeiten im Vorteil sind. Doch häufig hat der tägliche Erfolg auch mit Glück und den Umständen zu tun. Man kann die Fahrer erst im direkten Vergleich, mit gleichem Material, innerhalb eines Teams bewerten. Insgesamt bringt aber Vielfalt ein Werksteam wie Volkswagen voran."

Volkswagen hat bei der Dakar 2010 eines der spannendsten Duelle der Geschichte zugelassen. Wie wichtig war Volkswagen ein fairer Kampf um das Gesamtklassement?
"Wir haben nicht nur das Rennen gewonnen, sondern auch das Rennen gemacht. Ich glaube trotzdem, dass man erst die ‚Dakar‘ bezwingen muss, bevor man sie gewinnen kann. Das haben wir im Vorfeld gewusst. Im Verlauf hat sich erst ein Volkswagen Trio an der Spitze mit mehr als zwei Stunden Vorsprung etabliert, dann hat sich ein Zweikampf mit Nasser Al-Attiyah und Carlos Sainz herauskristallisiert. Doch man kann eine Dakar nicht vorausplanen und Siege einkalkulieren. Deswegen bin ich klar der Meinung, dass die Entscheidung, jedem Fahrer die Chance auf den Sieg zu lassen, die richtige war. Für das Team. Und auch für die Rallye selbst. Ich denke die Begeisterung der Fans gibt uns Recht."

Kris Nissen mit den beiden Kontrahenten, Foto: VW Motorsport
Kris Nissen mit den beiden Kontrahenten, Foto: VW Motorsport

Wie kann man als Motorsport-Direktor trotz dreier Siegkandidaten mit einem starken Willen zum Sieg das Risiko für die Marke minimieren?
"Wir sind ein gestandenes Team. Jeder Fahrer hat im Verlauf der vergangenen Jahre Fehler gemacht und daraus gelernt. Alle Fahrer haben unser Dakar-Motto 'To finish first, first you have to finish‘ jeden Tag neu bedacht und umgesetzt. Das ist der Schlüssel bei der Rallye Dakar: Einen schlechten Tag kann man nicht wieder aufholen."

Der Race Touareg hat bei der Dakar 2010 die meisten Etappensiege auf dem Konto und hat sich zudem als das zuverlässigste Fahrzeug im Feld erwiesen. Welcher dieser Punkte war Ihrer Meinung nach für den Gesamtsieg ausschlaggebend?
"Ganz klar: Man kann eine Dakar nur gewinnen, wenn man ein standfestes Auto hat, das schnell genug ist und man Fahrer hat, die damit umgehen können. Man muss nicht jede Etappe gewinnen, um am Ende vorn zu sein. Man hat dieses Jahr bei dieser starken Leistungsdichte gesehen, dass es immer von Nachteil ist, als Vortagessieger als erstes Fahrzeug auf die Strecke zu gehen. Ein Schlüssel zum Erfolg von Carlos Sainz und Lucas Cruz war es, jeden Tag eine gute Etappe zu haben, jedoch nicht zwingend gewinnen zu müssen."

Volkswagen verfügt über eine extrem eingespielte Truppe und hat über die Jahre an der Dokumentation der einzelnen Arbeitsschritte gearbeitet. Welchen Anteil hat das am Gesamtkunstwerk "Dakar"-Sieg?
"Kein Mensch und kein Team kann soviel Glück haben, die Dakar einfach so zu gewinnen. Deshalb ist es enorm wichtig, dass die einzelnen Räder im Getriebe einer Mannschaft perfekt ineinandergreifen. Ich habe zusammen mit dem Team lange daran gearbeitet, die Abläufe zu optimieren, Prozesse einzuhalten und jeden Tag ein bisschen besser zu werden. Ein Team ist wie eine Kette. Wenn es ein schwaches Glied gibt, dann muss man es gemeinsam stärken. Denn wenn es bricht, hat man ein Problem. Ich denke, das haben wir in den vergangenen Jahren perfekt umgesetzt."

Hoher Besuch im VW-Lager: Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelot, Foto: VW Motorsport
Hoher Besuch im VW-Lager: Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelot, Foto: VW Motorsport

Viele Kritiker sind der Meinung, dass eine Dakar auf dem afrikanischen Kontinent stattfinden muss. Wie bewerten Sie die beiden zurückliegenden Südamerika-"Dakars"?
"In erster Linie ist ‚Dakar‘ mehr ein Begriff als eine Ortsangabe. Wenn man die Historie der Rallye betrachtet, dann gab es schon einige Ausgaben, die keinen Start oder keinen Zieleinlauf in Dakar hatten. Eine ‚Dakar‘ gehört in ein Gebiet, wo es organisatorische Sicherheit gibt und ein herausforderndes Gelände. Wenn darüber hinaus dort auch ein großer Markt für die Hersteller gibt, dann ist das ein Bonus. Doch das wichtigste sind die ersten beiden Faktoren. Das findet man derzeit in Afrika nicht vor. Ich finde, die Dakar gehört in Länder wie Argentinien, Chile, Brasilien, Amerika, China, Russland oder Indien. Die beiden vergangenen Dakars in Südamerika haben bewiesen, dass die Prüfungen genauso hart oder noch härter sind als in Afrika. Mehr braucht es nicht."