'Runden drehen ist total langweilig, alles wiederholt sich. Springen wir lieber über die Hügel und machen einige verrückte Stunts dabei.' Genau das müssen sich 'Mad' Mike Jones, Edgar Torronteras, Mike Metzger, Carey Hart, Travis Pastrana und Co. in den 90er Jahren gedacht haben. Freeride hieß das Stichwort und so machten sich die Urväter des Freestyle Motocross damals frei vom Spießertum der Rennställe, den vorgeschriebenen Runden und der Zeitenjagd und setzten sich einfach auf ihre Bikes, um auf südkalifornischen Hügeln und Dünen nach BMX-Vorbild Spaß zu haben. Freeriden an sich ist auch heute noch Spaß pur, Freestyle Motocross ist hingegen zu einem knallharten Wettkampf geworden, in dem nur die Besten eine Chance auf den Sieg haben.

Schon 1999 wurde FMX als eigenständige Disziplin bei den X-Games aufgenommen und durch die Faszination am Sport war die Bewegung Freestyle Motocross nicht mehr aufzuhalten. Alles begann mit einfachen Tricks, ein Whip war damals schon ein wahres Wunder und beeindruckte die Massen. Auch heute zählt der Whip noch zu den stylischsten Tricks, allerdings hat den schon fast jeder MX-Pilot drauf. Ein FMX-Pokal ist damit definitiv nicht mehr zu holen. "Ungefähr im Jahr 2000 dachten ein paar Jungs in Amerika über einen Backflip auf dem Fahrrad nach. Viele dachten, dass das nicht möglich sein würde", erinnert sich Petr Pilat. Wer in FMX-Geschichte genau aufgepasst hat, weiß aber, dass Hart vor genau 13 Jahren den ersten Backflip bei den Gravity Games landete und damit eine neue Ära einläutete.

Pastrana toppte die Backflip-Experimente vieler Fahrer nur sechs Jahre später mit dem Double Backflip. "Heute können wir alle Tricks mit dem Backflip kombinieren, einen Double Backflip und einen Frontflip springen. Ich weiß wirklich nicht, ob das irgendwo aufhört", meint Pilat. Die schnelle Entwicklung erstaunt viele, sogar die Fahrer selbst. "Vor zehn Jahren wurde ausgerechnet, dass ein Backflip nicht möglich sei und jetzt machen wir den schon doppelt", sagt Kai Haase.

Immer weiter, immer höher, immer verrückter. Sebastian 'Busty' Wolter kennt sich in der Szene bestens aus und beschreibt: "Die Frage ist in allen Freestyle Sportarten immer die Gleiche: Wo geht es denn hin? Keiner kann sich dabei vorstellen, wo es wirklich hingeht. Aber schon die BMXer, Skateboarder oder Snowboarder haben in der Vergangenheit gezeigt, dass es immer weitergeht. Irgendeiner hat immer eine bekloppte Idee. Genauso ist das auch beim Freestyle Motocross." Die Tricks werden immer schwieriger und technisch anspruchsvoller, was laut dem ehemaligen FMX-Profi auch bedeutet, dass die dünne Linie, auf der sich die Piloten bewegen, immer schmaler wird.

2012 zeigten viele Freestyler Rock Solid Backflips, die zuvor unvorstellbar waren. "Jetzt sieht man, dass es geht und daraufhin werden sich ein paar Jungs wieder überlegen, was sie danach machen. Vielleicht fangen sie das Motorrad nach dem Rock Solid Backflip schon mit einer Hand wieder auf", erklärt der Mitbegründer der deutschen FMX-Szene.

Das letzte Jahr war auch das Jahr der Body Varials. Tom Pages ist nur einer der Fahrer, der den Volt und noch weitere Tricks wie den Flair schon standardmäßig ins Repertoire aufgenommen hat. Sogar Special Flips beherrschten die Trick-Vielfalt. Busty Wolter gibt zu bedenken: "Das Interessante ist, dass der Flair eigentlich 2008 schon zum ersten Mal gezeigt wurde und jetzt vier Jahre gebraucht hat, bis einer kam, der sich dem Ganzen wirklich angenommen hat. Tom Pages hat gesagt, dass er zwei Jahre lang an diesem Trick gearbeitet hat und auch am Special Flip. Es braucht heute einfach viel mehr Zeit. Früher ist man einmal fahren gegangen und hat direkt einen neuen Trick erfunden. Das geht heute einfach nicht mehr."

Es wird immer weitergehen

Die Trick-Welt wird sich definitiv weiterdrehen. Aber wie kann man Double Backflips und Frontflips noch steigern, Tricks noch spektakulärer, atemberaubender und dabei auch riskanter machen? "Ich denke, dass viele Jungs mit 360ern anfangen werden und dabei Kombos machen. Ansonsten kann ich nicht genau sagen, wie der Trick aussehen wird, aber ich weiß: Es wird immer weitergehen. Wir können uns auch in zehn Jahren wieder zusammensetzen, uns fragen, wie es weitergehen wird und keine Antwort darauf haben. Wenn man dann aber auf die letzten zehn Jahre zurückblickt, wird man sehen, dass es weiterging", ist der gebürtige Berliner sicher.

"Erst vor kurzem hat ein Typ in Amerika einen Doppel-Frontflip gemacht. Der war zwar nur ins Foampit, aber er hat es gemacht. Das ist echt verrückt", gibt Brice Izzo zu, der selbst kein Fan von Double Backflip oder Frontflip ist. "Dabei muss man einfach ein zu hohes Risiko eingehen. Ich will nur einen sauberen Run zeigen, einen guten Stil haben und nicht Kopf und Kragen bei solchen Sachen wie Double Backflip oder Frontflip riskieren."

Ähnlich sieht es auch Jose Miralles. "Für mich sind viele Tricks sehr gefährlich. Ich würde nie einen Frontflip oder einen Double Backflip versuchen. Ich bevorzuge Whips und die ganz normalen Tricks. Ich denke, dass viele Leute damit dann noch variieren werden. Jack Strong hat den Frontflip schon mit nur einer Hand gemacht. Travis Pastrana, Josh Sheehan... sie alle haben den Double Backflip schon versucht. Vielleicht werden sie den noch variieren, aber ich finde das ziemlich gefährlich."

Die Altmeister versuchen also den 'sicheren' Weg einzuschlagen. Die Jugend hingegen will nachziehen. "Seit einiger Zeit schwirrt ein Video auf Youtube vom Double Frontflip rum, also ich denke... Ich denke gar nichts. Ich ziehe einfach hinterher und versuche, das Beste draus zu machen", erklärt der 21-jährige Kai Haase, der wie ein weiteres deutsches FMX-Aushängeschild unbedingt am Ball bleiben will. Hannes Ackermann rechnet schon in naher Zukunft mit Frontflip- und Double-Backflip-Kombinationen und weiteren Body Varials.

Gambling with gravity

"Ich hoffe, dass noch mehr Jungs die Body Varials ausprobieren werden. Hoffentlich werden die Strecken größer und es gibt bald mehr Dirt-Jumps bei den Wettbewerben", drückt Libor Podmol seine Wünsche für die FMX-Zukunft aus. Nach einer rasanten Entwicklung in den letzten Jahrzehnten dürften dem Freestyle Motocross auch spannende Aussichten bevorstehen. Wie in kaum einer anderen Sportart werden dabei weiterhin physikalische Gesetze schlichtweg außer Kraft gesetzt. Aber kann der Evolution nicht irgendwann ein Riegel vorgeschoben werden? Der Weltmeister von 2010 glaubt, dass die Entwicklung irgendwann ein Ende hat. "Sicherlich gibt es Grenzen, denn wir haben noch immer nur ein Bike und sind auch nur Menschen, aber ich denke, wir haben das Limit jetzt noch nicht erreicht." Mit seiner Meinung steht Podmol allerdings fast alleine da. "Es gibt kein Limit", ist sich Miralles sicher. Auch Ackermann, Haase und der Japaner Daisuke Suzuki sind überzeugt, dass es im Freestyle Motocross keine Grenzen gibt. "Man kann wirklich nichts voraussagen. Sicherlich gibt es Grenzen, aber ich habe keine Ahnung wo", lacht David Rinaldo.

Nach Busty Wolter sind auch physikalische Grenzen für den Freestyle-Sport überschreitbar. FMX sei ein ständiger Kampf gegen die Schwerkraft. "Ich habe die Tätowierung 'Gambling with gravity' nicht ohne Grund. Genau das ist es, was wir machen: Wir schreiben die physikalischen Gesetze immer wieder neu." Beim Motocross Backflip hätten Ingenieure zuvor ausgerechnet, dass er gar nicht funktionieren kann. "Das hatten wir sogar schriftlich. Carey Hart wusste das, hat es trotzdem versucht und es hat geklappt."

Inzwischen ist der Backflip an der Tagesordnung, wird variiert und sogar in seiner Schwierigkeit mehr als verdoppelt. Die Freestyler von Morgen könnten noch zu ganz anderem fähig sein. "Die Grenzen des Denkbaren werden immer wieder neu verschoben. Klar können wir die Physik an sich nicht verändern, aber die vier- oder fünfjährigen Kids, die jetzt sehen, dass man Vorwärts-, Rückwärtssaltos, Double Backflips und 360er machen kann, die sehen das als ganz normal an und wer weiß, auf welche Ideen sie dann in ein paar Jahren kommen, wenn sie beginnen, Freestyle Motocross zu fahren?"

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