Toyota Racing wird dieser Tage mit Lob geradezu überhäuft. So ist es dem Kölner Rennstall gelungen, den Aufgalopp der diesjährigen Langstrecken-Weltmeisterschaft mit zwei souveränen Siegen gänzlich für sich zu entscheiden. Es verwundert daher nicht, dass der Mannschaft infolgedessen auch gleich von allen Seiten die Favoritenrolle für die 24 Stunden von Le Mans zugeschrieben wird, das wohl bedeutsamste Autorennen des Jahres. Viele vermeintliche Kenner, aber auch einige tatsächliche Fachmänner neigen dazu, schon jetzt ein blau-weißes Fahrertrio ganz oben auf dem Podium zu wähnen. Man glaubt offenbar, die Situation bereits gut genug einschätzen zu können.

Dabei drängt sich die Frage auf: Ist es heuer überhaupt möglich, im Vorfeld des großen Juniwochenendes einen Favoriten auszumachen? Natürlich obliegt die Einschätzung des Kräfteverhältnisses dem geneigten Beobachter selbst, doch die Sachlage ist undurchsichtiger denn je. Zum einen sind die drei Protagonisten Audi, Porsche und Toyota bis dato erst zweimal unter waschechten Wettbewerbsbedingungen aufeinandergetroffen, zum anderen gelten für die neue Saison Spielregeln, welche eine noch nie da gewesene Komplexität mit sich bringen. Themen wie Energierekuperation und Verbrauchsobergrenzen stehen zumindest in der diffizilen Welt des Motorsports noch ganz am Anfang.

Kaum brauchbare Vergleichswerte

Davon abgesehen reduzierte Regen schon gleich beim Auftakt im britischen Silverstone die Brauchbarkeit potenzieller Vergleichswerte auf ein Mindestmaß. Zwar war es beim zweiten Durchgang auf Belgiens berühmter Rennstrecke Spa-Francorchamps wenigstens am Renntag trocken, doch hier führten die Hersteller Experimente durch, welche der Nässe wegen nicht schon auf der Insel abgehandelt werden konnten. Beispielsweise wurden unterschiedliche Trockeneinstellungen erprobt und den Michelin-Pneus erstmals Doppelstints zugemutet. Obendrein war man mit konträren Aerodynamikpaketen unterwegs. Audi stemmte sogar den Einsatz eines dritten Autos, unter anderem mit einem Neuling am Volant.

Die Boliden im nassen Parc fermé des Silverstone Circuit, Foto: Adrenal Media
Die Boliden im nassen Parc fermé des Silverstone Circuit, Foto: Adrenal Media

Oberflächlich ist die bisherige Rangfolge der Marken ruck, zuck dargestellt: Toyota raste dank eines guten Grundtempos und hoher Zuverlässigkeit zweimal ganz nach vorne, während Porsche Schnelligkeit und Effizienz bewies, jedoch zu viele technische Gebrechen verzeichnen musste. Audi schien derweil in puncto Motorleistung etwas hintenan zu sein, leistete sich strategische Fehltritte und blieb auch ansonsten weitgehend farblos. Diesem groben Verhältnis die wenigen verwertbaren Zahlen aus England und Belgien hinzuzuaddieren und auf der entsprechenden Summe eine tragbare Le-Mans-Prognose zu gründen, könnte zu einem Trugschluss führen. Zu ungenau, zu viele Unbekannte blieben unberücksichtigt.

Audi ist nicht zu unterschätzen

Da wären zum Beispiel Audis Aerodynamikvarianten: Während die Fahrzeuge Nummer 1 und 2 in Spa mit dem regulären Paket unter zu viel Anpressdruck litten, mangelte es der auf Le Mans ausgerichteten Version an selbigem. Bei der Joest-Equipe gab man aber sogleich zu bedenken, dass ebendiese Version nur eine Grundlage für die endgültige sei, womit hier noch deutliche Verbesserungen erwartet werden dürfen. Ferner gelang es den Ingolstädtern in den Ardennen, erfolgreich Doppelstints zu absolvieren. Obwohl man lediglich bei jedem zweiten Service die französischen Gummis wechselte, stellte sich kein zu großer Bruch in den Rundenzeiten ein. Hier ist man der Gegnerschaft offenbar einen Schritt voraus.

Des Weiteren deutete sich bei der Generalprobe auf der wallonischen Traditionspiste an, dass Porsches 919-Hybriden besonders effizient zu Werke gehen. Die Schwaben schafften mit halbwegs vorsichtigen Gasfüßen 25 Runden, Toyota hingegen kam nur auf deren 23, obwohl man rein rechnerisch nicht weniger weit kommen sollte, schließlich gehören beide Fabrikate der 6-Megajoule-Energieklasse an. Eine gewichtige Frage, welche diesbezüglich leider unbeantwortet blieb: Wie wäre das Duell des am Ende siegreichen Toyotas gegen den bestplatzierten Porsche ausgegangen, wäre letztgenannter Wagen nicht durch eine ungewollte Sicherheitsabschaltung des Hybridsystems aus dem Rhythmus gebracht worden?

Offene Fragen bei Reifen und Sprit

Sicher ist, dass es bei einem zwischenfallsfreien Verlauf äußerst eng geworden wäre. Toyota hätte das Heil weiter in der Ferne suchen, Porsche weiter Benzin sparen müssen. Die Differenz von zwei Umläufen erscheint aber selbst unter Berücksichtigung der gegensätzlichen Herangehensweisen als etwas zu groß. Eine mögliche Erklärung liegt unter Umständen darin verborgen, dass Toyotas Hybridkonzept strikt auf Le Mans ausgerichtet ist. Aussagen der Verantwortlichen zufolge wird man erst dort, und zwar aufgrund des höheren Rekuperationspotenzials durch längere, härtere Bremsmanöver, dazu in der Lage sein, die volle Leistung des beeindruckenden Superkondensatoren-Systems auszuschöpfen.

Die jungen Audi-Piloten Albuquerque (links) und Bonanomi, Foto: Adrenal Media
Die jungen Audi-Piloten Albuquerque (links) und Bonanomi, Foto: Adrenal Media

Berechnungen der Ingenieure seitens ACO und FIA haben ergeben, dass sowohl Porsche als auch Toyota auf dem 13,6 Kilometer langen Circuit de la Sarthe mit einer Tankfüllung etwa auf 13,9 Runden kommen sollten; lediglich Audi wird hier im Nachteil sein, obgleich nicht unbedingt auf dem Papier. Auf dem Asphalt jedoch könnte es so aussehen, dass die R18-Kutscher über die gesamte Distanz jeweils einmal, wenn nicht gar zweimal mehr die Zapfsäule ansteuern werden müssen als ihre Markenrivalen. Der prognostizierte Wert: 13,2 Runden für die Dieselvehikel (2-Megajoule-Klasse). Fahrweise, Reifenverschleiß und Luftverhältnisse werden freilich ihren Einfluss auf die tatsächlichen Reichweiten nehmen.

Der längste Tag des Jahres

Schlussendlich kann man jedoch rechnen, rechnen, rechnen. Das besonders Aufregende ist: Audi R18 e-tron quattro, Porsche 919 Hybrid und Toyota TS040 Hybrid haben jeweils Stärken und Schwächen. Alle drei Werksställe entwickeln zurzeit auf Hochtouren, und bis zum großen Spektakel sind noch einige Wochen Zeit. Änderungen und neue Teile werden zudem beim obligatorischen Testtag in Le Mans, 14 Tage vor dem Höhepunkt, direkt am Ort des späteren Renngeschehens noch einmal evaluiert werden können. Private Probefahrtren sind unterdessen natürlich auch noch möglich. Porsche wird ebensolche schon in der kommenden Woche zwecks Optimierung der Haltbarkeit im Motorland Aragón in Spanien unternehmen.

Nicht zuletzt sollte vor dem Besuch des Wettbüros bedacht werden, dass die Schlacht an der Sarthe ihre eigenen Gesetzte hat. 24 Stunden sind ein anderes Paar Schuhe als sechs Stunden; viel kann in dieser Zeitspanne passieren und viel wird passieren. Safety-Car-Phasen, schlechtes Wetter, dichter Verkehr und allerhand Unvorhersehbares sind in Le Mans Tag und Nacht mit von der Partie. Und ob man nun einen Favoriten markieren mag oder nicht, sicher ist vor der 82. Auflage des Klassikers nur eines: Schon einzig alle diejenigen Zeichen, die sich bereits heute halbwegs eindeutig interpretieren lassen, versprechen ein 24-Stunden-Rennen, das sich mit keinem der bisher gesehenen vergleichen lassen wird.

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